Fortsetzung von:
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,35930.msg217083.html#msg217083Der erste der vier ZUM-Aufsätze, mit dem wir uns im Weiteren beschäftigen werden, ist der Aufsatz von:
Dörr, Dieter/Holznagel, Bernd/Picot, Arnold: Legitimation und Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Zeiten der Cloud. In: ZUM. Volume 60(2016), Heft 11. Baden-Baden: Nomos, Seite 920-946.
Dieser Aufsatz ist nicht nur im Titel mit dem zuvor besprochen ZDF-Gutachten (siehe PDF) identisch, sondern auch inhaltlich so gut wie identisch mit diesem Auftragsgutachten. Es wurde lediglich die oben erwähnte Vorbemerkung durch die folgende Einleitung ersetzt (S. 920):
Der folgende Beitrag befasst sich mit der Situation und den Perspektiven des öffentlich-rechtlich
verfassten Fernsehens in einer sich rasch wandelnden, von Digitalisierung und Internet zunehmend
geprägten Medienwelt. Dieser Wandel lässt sich plakativ mit der Metapher der »Cloud«
zusammenfassen, weil darin die enorme Flexibilität, Vielfalt und Dynamik der neuen Medienwelten
zum Ausdruck kommen. Von Bedeutung ist insbesondere die Frage, ob und in welcher Weise das
öffentlich-rechtliche Fernsehen unter den veränderten medialen Bedingungen seinen
Funktionsauftrag erfüllen muss und kann und ggf. welche zusätzlichen Aufgaben und rechtlichen
Bedingungen dafür erforderlich sind. Fragen der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
sind nicht Gegenstand der Abhandlung.
Jeder Abschnitt beginnt mit einer kompakten zusammenfassenden Botschaft (»These«). Diese kann
beschreibenden bzw. feststellenden Charakter haben, sie kann Folgerungen oder Wertungen zum
Ausdruck bringen und/oder Empfehlungen enthalten. Dadurch sollen die Lesbarkeit und der Ductus
des Beitrags verbessert werden.
Es wird also jetzt so getan, als wenn es sich bei dem Auftragsgutachten um eine unabhängige wissenschaftliche Abhandlung handeln würde, was aus meiner Sicht zweifelhaft bleibt. Das Arbeiten mit kompakten zusammenfassenden „Botschaften“ ist keine Methode, die in der Wissenschaftstheorie bekannt ist, sondern erinnert eher an etwas Religiöses denn Fachliches, weshalb man sich schon die Frage stellen kann, weshalb dieser Text überhaupt in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift abgedruckt wurde. Eine eindeutige Einordnung in den wissenschaftliche Kontext des Medienrechts ist für mich zudem nicht erkennbar. Das vom Umfang längere PDF-Dokument von der ZDF-Webseite gefällt dagegen mehr, weil es am Ende zusätzlich ein Literaturverzeichnis enthält, aus dem hervorgeht, wie sehr die beiden Autoren Dörr und Holznagel mit dem System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verwoben sind.
Das Bundesverfassungsgericht hebt in seinem Rundfunkbeitragsurteil aus diesem ZUM-Aufsatz vor allem die
Seiten 936 folgende und 940 folgende (Dörr/Holznagel/Picot, ZUM 2016, S. 920 <
936 f., 940 f.>) hervor, bei denen es um die beiden Unterkapitel
„Meinungsrelevanz nicht linearer Angebote“ und
„ÖRR und Informationsvielfalt im Internet“ geht.
Das Unterkapitel
„Meinungsrelevanz nicht linearer Angebote“ (PDF S. 58 f.) wird mit der
elften plakativen These des ZDF-Gutachtens eingeleitet:
Auch in der nicht-linearen Welt haben die Kriterien zur Bestimmung von Relevanz für die öffentliche Meinungsbildung weiterhin Bedeutung, jedoch sind die Merkmale der Aktualität, Suggestivkraft und Breitenwirkung (Bundesverfassungsgericht) an die Bedingungen nicht-linearer Kommunikation anzupassen.
PDF:
https://www.zdf.de/assets/161007-gutachten-doerr-holznagel-picot-100~originalMit dieser plakativen These versuchen die Autoren die Notwendigkeit der Vereinnahmung des Internets durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu begründen, indem sie die Merkmale der Aktualität, Suggestivität und Breitenwirkung, „die im Wesentlichen im Zeitalter der linearen Programmverbreitung entwickelt wurden“ (S. 58), auf die Welt der nicht-linearen Inhaltebereitstellung übertragen. Es ist in diesem Kontext durchaus bemerkenswert, dass die Autoren zumindest ansatzweise anerkennen, dass es Unterschiede zwischen der nicht-linearen Welt des Internets und der linearen Welt des Rundfunks gibt. Dabei heben sie jedoch in nicht zutreffender Weise hervor, dass „audiovisuelle Inhalte“ in der nicht-linearen Welt angeblich „eine ganz bedeutende Rolle“ (S. 59) spielen würden. Damit versuchen sie die eigenständigen Kulturformen des Internets wie Foren (Newsgroups), Blogs, Chats und Mailinglisten aus den Blickwinkel der medialen Weiterentwicklung zu entfernen, um die dumpfe Unkultur der TV-Junkies als relevante Einheit im WWW hervorzuheben, was mir sehr realitätsfern vorkommt, da das Internet (WWW) aus seiner historischen Entwicklung heraus, eine mediale Kulturform ist, die auf geschriebene Texte und nicht auf audiovisuelle TV-Inhalten basiert. Anstatt dies zu berücksichtigen, wird der Versuch unternommen, die gewachsene Internet-Kultur dadurch zu diskreditieren, dass die man in sehr einseitiger (linearer) Form auf das Problem der Entstehung von „Echo-Chamber-Effekten“ (S. 59) in den sozialen Medien verweist. Deshalb sollten sich diese Autoren aus der ZDF-Peergroup selbst mal fragen, ob sie nicht selbst in einer Filterblase sitzen, in der vorwiegend mit der eigenen sozialen Gruppe kommuniziert wird, damit negative oder positive Bewertungen verstärkend bestätigt werden. Diese einseitige Sichtweise der ZDF-Gutachter stellt nach meiner Ansicht ebenfalls die Unabhängigkeit des Gutachten in Frage, da sie in diesem Kapitel eine fehlende Distanz zu ihrer Herkunft aus der Scheinwelt des Rundfunks erkennen lassen.
Das Unterkapitel
„ÖRR und Informationsvielfalt im Internet“ (PDF S. 69 f.) wird mit der folgenden sehr suggestiven und sehr widersprüchlichen These eingeleitet:
Ein zentraler Auftrag des ÖRR besteht in der Sicherstellung von Meinungsvielfalt und qualitätsvoller Information. Dabei mag die Annahme zugrunde liegen, dass private Medienmärkte, insbesondere private Rundfunkmärkte, nicht ausreichend in der Lage seien, diesen Anforderungen an Vielfalt und Qualität zu genügen.
PDF:
https://www.zdf.de/assets/161007-gutachten-doerr-holznagel-picot-100~originalZunächst wird hier suggeriert, dass der ÖRR angeblich Meinungsvielfalt und qualitätsvolle Information liefern würde, ohne dass dies in irgendeiner Form belegt wird. Danach wird in einseitiger Form festgestellt, dass andere Medienmärkte, worunter auch die vielen Zeitungen fallen dürften, die ihre Dienste im Internet anbieten, nicht in der Lage seien, Vielfalt und Qualität zu liefern, was insofern schon widersprüchlich ist, weil viele Zeitung mittlerweile eine sehr umfangreiches Programm an Informationen im Internet bereitstellen, von dem niemand, den ich kenne, ernsthaft behauten würde, dass es sich in Qualität und Vielfalt vom ÖRR unterscheiden würde. Offensichtlich bewusst ausgegrenzt werden in diesem Kapitel zur Informationsvielfalt im Internet jene Informationsquellen, die nicht auf Formen des traditionelle Medienmarkt beruhen (z. B. Wikipedia und ähnliches). Zur Corona-Krise informiere ich mich beispielsweise hauptsächlich über die Webseiten des Robert-Koch Instituts und der Gesundheitsämter und nur wenig über Zeitungen und überhaupt nicht über den als Cloud definierten Unsinn der ZDF-Gutachter, weshalb ich die zitierte Feststellung als sehr unseriöse empfinde.
In diesem Stil geht es so denn auch weiter, was dann in die seltsamen Schlussthese mündet, dass es im
World Wide Web angeblich zu „Konzentrations- und Monopolisierungstendenzen“ kommen könnte, die den „publizistischen Wettbewerb“ nicht fördern würden
(PDF S.71):
Die Digitalisierung der Medien und insbesondere die Netz- und Plattformökonomie des Internet führen aus verschiedenen Gründen […] zu gewissen Konzentrations- und Monopolisierungstendenzen bei Anbietern, Verbreitern und Vermittlern von Inhalten einschließlich der sozialen Netzwerke. Diese sind zum größten Teil werbefinanziert.
Es bedarf keiner besonderen Phantasie sich vorzustellen, dass solche Strukturen den publizistischen Wettbewerb nicht gerade fördern sowie die Bereitschaft verringern, positive externe Effekte des eigenen Angebots ggf. auch zu Lasten von eigenen Gewinnmöglichkeiten in den Vordergrund zu stellen. Bei der Vielfaltsicherung des ÖRR kommt es aber gerade darauf an, produktiven Meinungsstreit und unbequeme bzw. Nischenthemen, die gesellschaftlich relevant sind, lebendig zu halten und zugänglich zu machen.
Selbst wenn es zutreffen würde, dass es zu „Konzentrations- und Monopolisierungstendenzen“ im Internet kommen könnte, hätten die ZDF-Gutachter darlegen müssen, wie der ÖRR den „publizistischen Wettbewerb“ in ihren Sendungen aufrechterhält.
Dies wird jedoch lediglich der Phantasie des Lesers überlassen, was natürlich ein Unding ist, wenn man bedenkt, dass der Rundfunkbeitrag von allen Haushalten in Deutschland getragen werden muss und diese Textstelle Eingang in ein verfassungsrechtliches Urteil gefunden hat. Es wird wohl auch niemanden unter den Menschen, die die Programme des ÖRR noch konsumieren, geben, der erklären könnte, wie der ÖRR zur Vielfaltsicherung „produktiven Meinungsstreit und unbequeme bzw. Nischenthemen, die gesellschaftlich relevant sind“, allen Menschen zugänglich macht.
Zur ihrer These einer angeblich fehlenden Anbieterzahl im Internet verweisen die ZDF-Gutachter auf sehr pauschale Weise auf die folgende Studie
(pdf S. 71):
Neuberger, Christoph/Lobigs, Frank: Die Bedeutung des Internets im Rahmen der Vielfaltsicherung. Gutachten im Auftrag der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), Berlin 2010.
https://www.kek-online.de/fileadmin/user_upload/KEK/Publikationen/Gutachten/Gutachten_Die_Bedeutung_des_Internets_im_Rahmen_der_Vielfaltssicherung.pdfDiese Studie (Umfang 268 Seiten) wird ohne die Nennung einer konkreten Seitenzahl erwähnt, womit nicht nachgeprüft werden kann, ob die behauptete These überhaupt belegt wird,
was wiederum belegt, dass die ZDF-Gutachter nicht wissenschaftlich gearbeitet haben. Ziel der KEK-Studie war es offensichtlich auch nicht, darzulegen, dass wir den ÖRR angeblich zur Vielfaltsicherung benötigen würden, wie die ZDF-Gutachter an dieser Stelle zu suggerieren versuchen. Im Gegenteil: man findet im KEK-Gutachten sogar Hinweise darauf, dass der ÖRR eben nicht in der Lage ist, mit der Vielfaltsicherung durch private Rundfunkanbieter, Zeitungen und die Internet eigenen Publikationsformen wie Blogs und Foren zu konkurrieren.
In einer Tabelle, in der die
„Vielfalt nach der Abdeckung von Einzelthemen“ (KEK S. 114) überprüft wurde, deckt die „Tagesschau“ beispielsweise nur 25 von 993 Themen ab, während „RTL aktuell“ allein an dieser Stelle schon den ÖRR mit einer Abdeckung von 35 von 993 Themen übertrifft. „Die Presse bietet insgesamt ein hohes Maß an Vielfalt: Sie deckt 52 % aller Einzelthemen ab. Am höchsten ist die Vielfalt des Spiegels“ (KEK S. 115). Bei dieser Vielfaltanalyse liegen Fernsehen und Hörfunk generell weit zurück, wobei sie sogar von den Internetablegern der Presse (Vielfalt von 40 %) übertroffen werden.
Unabhängig davon, dass eine Studie aus dem Jahre 2010 heute nicht mehr aktuell sein dürfte, muss bei solchen Studien immer bedacht werden, dass die Frage der Relevanz eines Themas nicht leicht zu bestimmen ist. Dasselbe gilt letztendlich auch für die Frage der Relevanz von Anbietern, bei der man beispielsweise bei Suchmaschinen durchaus beobachten kann, dass die Webseiten von traditionelle Medienanbieter in der Regel höher im Ranking liegen als die Webseiten von freien Bloggern oder No Government Organisationen. Eine solche Fokussierung auf die traditionellen Medienanbieter würde natürlich die Gefahr in sich bergen, dass die althergebrachten Anbieter auch im Internet die „Vielfalt“ der Themen bestimmen würden, was eben nicht zu mehr Vielfalt im Internet, sondern nur zu einem Spiegel der alten Medienwelt im Netz führen würde. Auf dieses Problem wollten die ZDF-Gutachter jedoch mit Sicherheit nicht hinaus, wenn sie in ihrem Gutachten ständig davor warnen, dass eine scheinbar hohe Angebotsvielzahl „von einer relativ kleinen Zahl von Anbietern getragen sein“ (PDF S. 71) kann. Schließlich habe sich diese Gutachter aus der ZDF-Peergroup sehr deutlich für einen dieser Anbieter, nämlich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ausgesprochen.