Tag 159 (noch 22 Tage): Für den juristischen Laien ist der jahrelange Konflikt zwischen dem EGMR und dem Bundesverfassungsgericht um das Thema „Sicherungsverwahrung“, das Gegenstand der Individualbeschwerden Nrn. 10211/12 und 27505/14 war, wahrscheinlich nicht nachvollziehbar. Dieser Konflikt wurde erst mit der hier gegenständlichen Entscheidung der großen Kammer vom 4. Dezember 2018 beigelegt. Vorher gab es Entscheidungen des EGMR wie diese:
CASE OF M. v. GERMANY - [German Translation] http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-139507CASE OF M. AND 12 OTHER CASES AGAINST GERMANYhttp://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-150275Der Konflikt wird wohl erst deutlich, wenn man sich die abweichende Stellungnahme des Richter Pinto de Albuquerque aus der abschließenden Entscheidung der großen Kammer durchliest (S. 81-122 der deutschen Übersetzung mit eigenen Rdnrn.). Hierzu nochmal:
CASE OF ILNSEHER v. GERMANY - [German Translation] http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-200760Daher möchte ich die abschließende Schlussfolgerung des Richters aus diesem Urteil zitieren:
VI. Abschließende Schlussfolgerung (Rdnrn. 129-130)
129. Der vorliegende Fall hat meine Erinnerung an einen Nachmittag im August 1995 in
Freiburg im Breisgau geweckt. Während eines Gesprächs mit Hans-Heinrich Jeschek über die
Renaissance des Feindstrafrechts (*) gestand er mir, dass er, was Europa angehe, am meisten
fürchte, dass gedankenlose politische Mehrheiten das Strafrecht missbrauchen, ohne dabei auf
Widerstand der Gerichte zu stoßen, die sich dadurch mitschuldig machen. Er bedauerte, dass
Europa nicht aus seiner Geschichte gelernt habe.
130. Es ist nicht überraschend, dass Politiker am Rande dessen agieren, was eine Achtung der
Konvention verlangen würde, oder sogar darüber hinausgehen, dass sie die Werte der
Konvention und die Urteile des Gerichtshofs in polemischer, wenn nicht gar demagogischer
Weise missachten, um politische Unterstützung bestimmter Wählerschaften zu erlangen.
Wenn die Menschenrechte einen grundlegenden Zweck verfolgen, dann den, die Grundrechte
einzelner vor Repressionen durch schlecht beratene Mehrheiten zu schützen. Dies gilt
insbesondere für leicht zu vernachlässigende Minderheiten wie Gefangene oder Migranten.
Politiker dieser Mehrheiten sollten die internationalen Menschenrechte im Allgemeinen und
die Konvention im Speziellen achten, da jeder Staatsbedienstete an Menschenrechtsgesetze
gebunden ist und die Konvention zu einer gemeineuropäischen Grundrechtsentwicklung
beiträgt. Das gilt selbstverständlich auch für die Abgeordneten, die Bestimmungen
beschlossen haben, die die nachträgliche Sicherungsverwahrung erlauben, und die ein
schändliches intuitu personae Gesetz verabschiedet haben, um Herrn I. für immer
wegzusperren.
Wirklich entmutigend ist, dass auch Verfassungsgerichte und höchste Gerichte in ganz
Europa die Konventionswerte und die Urteile des Gerichtshofs missachten und damit die
Machtausübung von Politikern ermöglichen, statt die Rechtsstaatlichkeit zu garantieren. Wir
haben das bereits in anderen Ländern Europas beobachtet, wo fügsame Richter ihre
Rechtsprechung den Ansichten politischer Mehrheiten unterwerfen. Bedauerlicherweise ist
nun das deutsche Bundesverfassungsgericht an der Reihe mit seiner vollkommen treulosen
Auslegung der Rechtssache M. und von deren Folgefällen dahingehend, dass der Grundsatz
nulla poena sine lege praevia nicht auf die Sicherungsverwahrung anwendbar wäre. Indem
der Gerichtshof die Position des Karlsruher Gerichts trotz der glasklaren und bewährten
Standards des Völkergewohnheitsrechts und des Völkervertragsrechts sowie des im
vergleichenden Recht vorherrschenden Konsens durchwinkt, nähert er sich der rechtlichen
Peripherie in Europa einen weiteren Schritt an. Ich vertrete die Auffassung, dass es sich bei
der verhängten Sicherungsverwahrung um eine rückwirkende „Strafe“ unter Verstoß gegen
Artikel 7 und 5 Abs. 1 der Konvention handelte und spreche mich nachdrücklich dafür aus,
dass die zentrale Aufgabe des Gerichtshofs die Verteidigung moderner Strafrechtsgrundsätze
und der Schutz der Menschenrechte in Europa sein muss.
(*) „Der Begriff Feindstrafrecht ist eine 1985 vom deutschen Strafrechtler und Rechtsphilosophen Günther Jakobs vorgeschlagene Bezeichnung für ein Strafrecht, das bestimmten Gruppen von Menschen die Bürgerrechte versagt und sie als Feinde der Gesellschaft oder des Staates außerhalb des für die Gesellschaft geltenden Rechts stellt.“
Aus: https://de.wikipedia.org/wiki/FeindstrafrechtEinige Passagen aus diesen Schlussfolgerungen habe ich farblich hervorgehoben, um aufzuzeigen, dass diese Passagen durchaus auf die absurde Rechtsprechung zum Rundfunkbeitrag anzuwenden sind. Denn nach der Inhaftierung eines Menschen, der keinen direkten Rechtsweg hatte, gegen eine Direktanmeldung bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vorzugehen, ist die Annahme, dass die politischen Rechtsprechung zum Rundfunkbeitrag ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Konventionen darstellt, nicht mehr abwegig. Diese Direktanmeldungen haben bis heute keine gesetzliche Grundlage, weshalb der Rechtsgrundsatz
Keine Strafe ohne Gesetz hier schon verletzt ist. Es ist in diesem Kontext zudem sehr fragwürdig, ob irgendwelche Festsetzungsbescheide, die in der Folge einer unfreiwilligen Anmeldung erfolgt sind, die fehlende Rechtsgrundlage einer Selbstjustiz durch Intendanten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wirklich heilt, da diese Bescheide bereits vollstreckbare Titel sind, die eine faire Auseinandersetzung mit den Abwegen des Rundfunkbeitrages nicht ermöglicht haben, weil der Kläger bereits als schuldiger Schuldner aufgefasst wurde, obwohl er eigentlich noch als unschuldig hätte gelten müssen. Mittlerweile wissen wir sogar, dass viele dieser Festsetzungsbescheide ebenfalls keine gesetzlich Grundlage haben, da sie im Rahmen eines vollständig automatisierten Verfahrens erlassen wurden, zu dem es lange keine rechtliche Reglung gab. Die nachträgliche Verabschiedung des § 10a RBStV ist in diesem Kontext dann ein Beleg dafür, dass die Gerichte zuvor gegen den Rechtsgrundsatz
Keine Strafe ohne Gesetz verstoßen haben. Es sei daher darauf verwiesen, dass der Art 7 Abs. 1 EMRK gerade den Sinn und Zweck hat, Minderheiten wie die Abstinenzler der Rundfunkempfangsmöglichkeit davor zu schützen, Opfer einer willkürlichen Rechtsprechung zu werden.
Hierzu im weiteren auch:
Auf Antrag des WDR und Stadt Borken droht am 25.02.21 die Inhaftierunghttps://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,34912.msg212704.html#msg212704Verfassungsbeschwerde Zwangsmitgliedschaft/Diskriminierung (ÖRR-)Nichtnutzerhttps://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=34071.0