Tag 38 (6. Woche):Aus der Sicht der Europäischen Menschenrechtskonventionen (EMRK) wäre nach so vielen Hafttagen schon jetzt zu klären, ob Georg Thiel nicht im Interesse der Rechtspflege einen Anspruch auf die Vertretung durch einen Anwalt hätte gemäß
Art. 6 Abs. 3c EMRK (Recht auf ein faires Verfahren)https://dejure.org/gesetze/MRK/6.html(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
[...]
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
Da sich unser Aktivist mit seinem Protest gegen das Rundfunkunternehmen WDR wendet, dessen Umsätze im Milliardenbereich liegen, entspräche es zumindest teilweise dem Rechtsgrundsatz der Fairness, wenn Georg Thiel wenigstens einen eigenen Anwalt hätte.
Mit Bezug auf die Unangemessenheit der Haft des Aktivisten wäre außerdem zu überprüfen, ob hier nicht eine Verletzung des
Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) vorliegt
https://dejure.org/gesetze/MRK/5.html(1) 1Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. 2Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
b) rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßiger Freiheitsentziehung wegen Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;
[...]
(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, daß ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.
(5) Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.
Eine Erzwingungshaft mag vielleicht verhältnismäßig sein, wenn ein korrupter Politiker in einer Parteispendenaffäre die Namensnennung von Spendern verweigert, da es in solchen Fällen um Millionenbeträge geht. Die Erzwingung einer Vermögensauskunft, deren juristischer Wert an sich schon zweifelhaft ist, dürfte damit in den Bereich der Unverhältnismäßigkeit liegen;
insbesondere dann, wenn auch andere Motive für die Inhaftierung vorliegen können, die nichts mit einer Vermögensauskunft zu tun haben. Es sei an dieser Stelle auch noch einmal erwähnt, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zum Rundfunkbeitrag selbst
den Beweis dafür liefert, dass das Einfordern einer eidesstattlichen Versicherung in Angelegenheiten des Rundfunkbeitrages unverhältnismäßig ist, wenn es in den Urteilen vom 18. Juli 2018 (AZ: 1 BvR 1675/16 u. a.) feststellt (ebenda Rn. 92):
BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2018
- 1 BvR 1675/16 -, Rn. 1-157,http://www.bverfg.de/e/rs20180718_1bvr167516.htmlDem ließe sich auch nicht dadurch abhelfen, dass die Beweislast für das Fehlen eines Empfangsgeräts den Beitragspflichtigen auferlegt würde. Der hierfür erforderliche Nachweis einer negativen Tatsache ließe sich praktikabel letztlich nur durch eine Versicherung an Eides statt erbringen. Neben der Frage der Verhältnismäßigkeit eines solchen Nachweises, bei dem Falschangaben mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht sind (vgl. Schneider, NVwZ 2013, S. 19 <22>; Wagner, Abkehr von der geräteabhängigen Rundfunkgebühr, 2011, S. 166 ff.), bildet die Versicherung an Eides statt vor allem nur eine Momentaufnahme ab (ebenso BVerwGE 154, 275 <290 Rn. 37>). Sie müsste regelmäßig erneuert werden, was kaum praktisch überprüft werden könnte. Entsprechendes gilt für den Nachweis, dass vorhandene Geräte nicht zum Empfang bereitgehalten werden.
Denn die eidesstattliche Versicherung, nach der zum Zeitpunkt der Vermögensauskunft kein pfändbares Vermögen vorliegt, bildet genauso „nur eine Momentaufnahme“ ab wie die Auskunft zur Nicht-Nutzung von Rundfunkgeräten. Damit ist die Erzwingung einer eidesstattlichen Versicherung zu einer Vermögensauskunft ebenso fragwürdig und unverhältnismäßig wie die Verworfenen eidesstattlichen Versicherungen zur Nicht-Nutzung der Rundfunkempfangsmöglichkeit, weil der „Nachweis, bei dem Falschangaben mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht sind“, in diesem Falle ebenfalls „kaum praktisch überprüft werden“ kann. Eine Ausnahme hiervon wäre der Fall, bei dem vorher schon der Nachweis vorliegen würde, dass die betreffende Person in einer Vermögensauskunft möglicherweise falsche Angaben machen würde. Ein solches Verhalten einer Vollstreckungsbehörde wäre in meinen Augen jedoch ein kriminelles Verhalten, weil hier bewusst auf die Einleitung eines Strafverfahrens hingearbeitet werden würde. Da man mit solch einem Verhalten von Behörden heute jedoch rechnen muss, ist es nur nachvollziehbar, dass Georg Thiel die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung verweigert hat. Ein einfacher Bürger kann schließlich bei der Komplexität unseres Rechtssystem ohne Rechtsbeistand nicht mehr selbst einsehen, welche Rechtsfolgen eine solche eidesstattliche Versicherung hat. In diesem Zusammenhang weise ich im Übrigen auch auf die Schulungen des Beitragsservice hin, in denen die Gerichtsvollzieher und andere Vollstrecker offensichtlich gezielt gegen angeblichen „Beitragssünder“ aufgehetzt werden (Vgl. hierzu beispielsweise die Berichterstattung von Markus Mähler).
Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche andere Gründe, die eine Inhaftierung von Georg Thiel fragwürdig und ungerechtfertigt erscheinen lassen. Denn die Gefangenschaft beruht nach meinem Kenntnisstand auch auf einer „Direktanmeldung“ und auf „vollständig automatisierten Festsetzungsbescheiden“, also auf Sachverhalten, von denen wir heute wissen, dass sie ohne Gesetz eingeleitet wurden - vgl. hierzu mal
Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz)https://dejure.org/gesetze/MRK/7.html(1) 1Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. 2Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.
(2) Dieser Artikel schließt nicht aus, daß jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.
Georg Thiel sollte nach seiner Entlassung aus der JVA Münster wegen der fehlenden Berechtigung der Inhaftierung direkt über einen Anwalt eine Haftentschädigungsklage beim zuständigen Amtsgericht oder sogar gleich beim Landgericht
(*) gegen die Stadt Borken (Stadtkasse) einreichen lassen. Ich meine sogar mal gelesen zu haben, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg in einem vergleichbaren Fall Russland dazu verurteilt hat, einem Gefangenen eine Entschädigung im Umfang von 3000 Euro pro Tag der Inhaftierung zu zahlen. Zunächst ist jedoch ersteinmal eine einfachrechtliche Überprüfung notwendig, ob die Stadt Borken tatsächlich nach Recht und Gesetz gehandelt hat.
(*) Eine erste Idee für einen möglichen Rechtsweg liefert vielleicht der folgende Artikel:
Haftentschädigung für die Abschiebehafthttps://www.rechtslupe.de/verwaltungsrecht/haftentschaedigung-fuer-die-abschiebehaft-3141311Edit "Bürger":
Quellen- bzw. insbesondere Link-Angaben zum BVerfG-Urteil ergänzt. Vorherige fälschliche Randnummer 61 korrigiert durch Rn. 92.
Genau aus Gründen der einfachen Überprüfbarkeit wie dieser sind zu allen(!) Quellen immer(!) auch die entsprechenden Links anzugeben! Es ist mehr als ärgerlich, das von Moderatoren-Seite immer und immer wieder selbst erfahrenen Forum-Mitgliedern sagen zu müssen.
Auch die erwähnten/ referenzierten Artikel der EMRK waren hier zu verlinken und auszugsweise zu zitieren, sonst müssen sich tausend Leser die Artikel selbst zusammensuchen. Das ist ggü. den Lesern nicht nur nicht fair, sondern in Bezug auf die Diskussion auch ineffektiv.
Bitte also um zukünftige konsequente, eigenverantwortliche, gewissenhafte Berücksichtigung. Danke.