BVerfG, Beschluss vom 11.10.2013 - 1 BvR 2616/13Einstweilige Anordnung
https://openjur.de/u/743670.html[...]
Verwaltungsbehörden und Gerichte bleiben auch dann, wenn sich der Gesetzgeber - wie in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO - angesichts der Besonderheiten eines Sachbereiches (vgl. BVerfGE 65, 1 <70 f.>) zu einer generellen Anordnung des Sofortvollzuges entschließt, den verfassungsrechtlichen Bindungen aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unterworfen (vgl. BVerfGE 69, 220 <229>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 -, NJW 1987, S. 2219). Verwaltungsbehörden haben bei den ihnen obliegenden Ermessensentscheidungen über Vollstreckungsmaßnahmen zu berücksichtigen, dass der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verlangte umfassende und wirksame gerichtliche Rechtsschutz illusorisch wäre, wenn sie irreparable Maßnahmen durchführten, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft haben (vgl. BVerfGE 35, 382 <401>; 69, 220 <227> vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 -, NJW 1987, S. 2219). Dies gilt auch für den vorläufigen Rechtsschutz (vgl. BVerfGE 46, 166 <178>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 -, NJW 1987, S. 2219). Von Verfassungs wegen liegt es unter Berücksichtigung der Effektivität verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes jedenfalls nahe, für die Dauer des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens - zumindest soweit ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht offensichtlich aussichtslos oder rechtsmissbräuchlich ist - von Maßnahmen der Vollstreckung abzusehen, wenn anderenfalls schwere und unabwendbare Nachteile drohen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 -, NJW 1987, S. 2219). Dies gilt zumal, wenn - wie hier - die vollstreckende Verwaltungsbehörde durch bereits durchgeführte Maßnahmen eine genügende Sicherheit für ihre Forderung erreicht hat.
Weigert sich eine Verwaltungsbehörde in diesen Fällen trotz formloser gerichtlicher Aufforderung ohne ersichtlichen Grund, bis zur endgültigen Entscheidung im Eilverfahren auf Vollstreckungsmaßnahmen zu verzichten, obliegt es dem Gericht, dies der Behörde durch einen sogenannten Hängebeschluss förmlich aufzugeben. Kommt das Fachgericht dem nicht nach, verletzt es seinerseits die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG.
Aus Auszügen anderer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zusammengestellt:
Aus den Grundsätzen der Gewaltenteilung und der Verfassungsorgantreue ergibt sich, dass die Exekutive die bei Gericht anhängigen Verfahren nicht durch den faktischen Vollzug des angegriffenen Hoheitsakts überspielen und damit die Geltung des Rechts in Frage stellen darf (vgl. BVerfGE 35, 257 <261 f.>; Schenke, Die Verfassungsorgantreue <1977>, S. 130 ff.; Friesenhahn, ZRP 1973, S. 188 <189> mit Nachweis der übereinstimmenden Auffassung von A. Arndt).
Dies dient allgemein nicht allein nur der Befriedigung subjektiver Interessen, sondern auch der Sicherung der Entscheidungsmacht der Judikative gegenüber der Exekutive (Quaritsch in: VerwArch. 51 <1960>, 210 <216 f.>; vgl. auch BVerfGE 7, 367 <373>; 42, 103 <111>; 42, 103 <119> zu § 32 BVerfGG). Demgemäß erschöpft sich der Gedanke des vorläufigen Rechtsschutzes nicht in der Zubilligung antragsgebundener Rechtsschutzmöglichkeiten, sondern zeitigt darüber hinausgehende, rechtlich bewehrte Wirkungen: Die Behörde hat daher nach dem Eingang einer Klage bei Gericht, die die Klärung des Rechtsverhältnisses und der Zulässigkeit der von der Behörde betriebenen Vollstreckung zum Gegenstand hat, die Vollstreckung auszusetzen und die Entscheidung über die Klage abzuwarten.
Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 104, 220 <231>; 129, 1 <20>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 2. Dezember 2014 - 1 BvR 3106/09 -, NJW 2015, S. 610; stRspr). Das Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert jedem den Rechtsweg, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Damit wird sowohl der Zugang zu den Gerichten als auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gewährleistet. Der Bürger hat einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen (vgl. BVerfGE 40, 272 <275>; 113, 273 <310>; 129, 1 <20>). Das Rechtsmittelgericht darf ein in der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leer laufen“ lassen (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; 104, 220 <232>; 117, 244 <268>). Sind dem Gericht im Interesse einer angemessenen Verfahrensgestaltung Ermessensbefugnisse eingeräumt, so müssen diese im konkreten Fall im Blick auf die Grundrechte ausgelegt und angewendet werden. Sie dürfen nicht zu einer Verkürzung des grundrechtlich gesicherten Anspruchs auf einen effektiven Rechtsschutz führen (vgl. BVerfGE 49, 220 <226>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. September 2009 - 1 BvR 1305/09 -, Rn. 15).
Zudem sind in jedem Falle einer Vollstreckung in Vermögen die Grundrechte zu wahren (vgl. § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO und BVerfGE 52, 214, 219; BVerfG,Urteil v. 04.06.1992, IX ZR 149/91) und die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst ausgeschlossen werden (BVerfG, Beschluss v. 08.05.2017, 2 BvQ 23/17). Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG steht demjenigen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Art. 19 Abs. 4 GG beinhaltet nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Das Verfahrensgrundrecht begründet einen substantiellen Anspruch des Einzelnen auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle, bevor vollendete Tatsachen eintreten, die den Rechtsschutz ins Leere laufen lassen (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 49, 329 <340 f.>).
Edit "Bürger" @alle: Hier im Thread "Klage - Verwaltungsgericht Berlin - Begründung/Urteil /weiteres Vorgehen" bitte keine Vertiefung von darüber hinausgehenden eigenständigen und thread-füllenden Einzelaspekten wie Vollstreckung trotz Klage. Dies bitte allenfalls in gut aufbereitetem eigenständigen Thread mit aussagekräftigem Thread-Betreff und nur, soweit es nicht im Forum bereits mehrfach behandelte Fragen betrifft. Hierzu bitte zunächst ausgiebig die Forum-Suche nutzen. Danke für allerseitiges Verständnis und die Berücksichtigung.