VG Frankfurt/Oder, 09.09.2020 - 3 K 616/17
https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=VG%20Frankfurt%2FOder&Datum=09.09.2020&Aktenzeichen=3%20K%20616%2F17
24
C. Die auch im Übrigen zulässige Anfechtungsklage hat in der Sache keinen Erfolg. Die angegriffenen Festsetzungsbescheide und der hierzu ergangene Widerspruchsbescheid sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Das Rechtsstaatprinzip wird verletzt.
25
I. Der Rechtmäßigkeit dieser Bescheide steht insbesondere nicht entgegen, dass sie (ausweislich ihres Wortlauts) maschinell erstellt worden sind.
26
Vor diesem Hintergrund war auch der Erlass von Einzelfallentscheidungen mithilfe datenbankgestützter Systeme, in denen die Daten der einzelnen Fälle vorab eingegeben und Entscheidungen dann zu bestimmten Terminen durch bewusstes Ingangsetzen automatisierter Prozesse erstellt werden, als einfache, zweckmäßige und zügige Form der Durchführung von Verwaltungsverfahren insbesondere im Bereich der Massenverwaltung rechtlich zulässig.
(Rotfärbung nicht im Original.) Es gibt hier beim Beitragsservice (um dessen Arbeit es ja wohl geht) kein bewusstes Ingangsetzen automatisierter Prozesse.
Der einzige bewusste Vorgang ist die Dateneingabe. Ab diesem Moment läuft alles vollständig automatisiert ohne Einwirkung eines Menschen.
27
2. Diese Rechtslage änderte sich erst durch das Inkrafttreten von § 35a VwVfG zum 1. Januar 2017, der ebenfalls in Verbindung mit § 1 Abs. 1 VwVfG BE auch für den Erlass von Rundfunkbeitragsbescheiden durch die beklagte Rundfunkanstalt gilt. Nach dieser Vorschrift kann ein Verwaltungsakt vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen werden, sofern dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist und weder ein Ermessen noch ein Beurteilungsspielraum besteht.
Die Praxis zeigt, dass der Fall so gut wie nie eintritt, dass weder ein Ermessen noch ein Beurteilungsspielraum besteht. Bei allen Verwaltungsentscheidungen spielt ein Ermessen hinein. Wir haben hier schon das Auswahlermessen. Es ist denkbar, dass der §35a VwVfG niemals seine Wirkung entfalten kann, weil die Voraussetzungen niemals erfüllt werden.
29
Für den Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis zum 31. Mai 2020 ist aber eine Rechtsvorschrift, die den vollautomatisierten Erlass von Rundfunkbeitragsbescheiden zulassen würde, nicht ersichtlich. Rundfunkbeitragsbescheide, die wie der Festsetzungsbescheid vom 2. Januar 2017 in diesem Zeitraum erstellt wurden, wären vor diesem Hintergrund rechtswidrig, wenn sie vollständig durch automatisierte Einrichtungen erlassen worden wären (vgl. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Auflage 2017, § 35 a Rn. 20).
Tja.
Und jetzt wird gerudert:
30
Ob der Festsetzungsbescheid vom 2. Januar 2017 vor diesem Hintergrund ursprünglich rechtswidrig war, erscheint allerdings fraglich, denn er ist zwar maschinell erstellt worden. Dies muss aber nicht notwendig auch bedeuten, dass er „vollständig durch automatisierte Einrichtungen“ erlassen worden ist. Letzteres wäre nur der Fall, wenn die getroffene Regelung nicht auf eine Entscheidung einer autorisierten Person in der Behörde rückführbar wäre (vgl. Ramsauer, a.a.O, § 35 a Rn. 3).
Welche Person hat etwas entschieden? Keine.
Es wurde nur etwas in die Datenbank eingegeben.
Nach den Erfahrungen des Gerichts mit der Verwaltungspraxis des Beklagten [...]
Darf ich spekulieren? Einladungen zum Kaffeekränzchen, Wochenendgolf mit der Intendantin,...
[...] steht aber keineswegs ohne weitere Ermittlungen fest, dass dessen Festsetzungsbescheide nach Ablauf bestimmter Zeiträume automatisch ergehen. Vielmehr deutet einiges darauf hin, [...]
Was deutet darauf hin? Darf das so unkonkret in einem Urteil stehen?
[...] dass die Entscheidung darüber, ob von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, Festsetzungsbescheide über rückständige Beiträge zu erlassen, nicht automatisiert nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums oder bei Eintritt bestimmter Bedingungen, sondern in jedem Einzelfall von einem Amtswalter getroffen wird, der dann die maschinelle Fertigung der Bescheide in Gang setzt.
Dann muss der Amtswalter benannt werden können. In jedem Einzelfall.
Nach den Erfahrungen einiger Kläger mit der Verwaltungspraxis des Beklagten (Verletzung der Datenschutzrechte, Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung,....,....,...,....., Inhaftnahme wegen weniger als 200 Euro)
deutet einiges darauf hin, dass niemand, aber auch wirklich niemand eine maschinelle Fertigung der Bescheide in Gang setzt.
Dazu hätte es genügt, in die vollständig offengelegte Beitragshistorie der LRA Einsicht zu nehmen. "Vollständig offengelegte Beitragshistorie" heißt: alle Pfeilchen sind aufgeklappt.
31
Offen ist auch die Frage, ob § 10 Abs. 5 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages den zuständigen Stellen einen Spielraum bei der Entscheidung lässt, ob und nach welchem Zeitraum der Säumnis sie Festsetzungsbescheide erlassen.
Gäbe es einen Spielraum, so wäre der §35a VwVfG nicht mehr anwendbar. Die Frage kann also nicht offen bleiben,
sondern muss - um in der Urteilsbegründung konsistent zu bleiben - verneint werden.
Da aber ein Amtswalter vom Gericht herbeispekuliert wird, spielt §35a VwVfG ohnehin keine Rolle mehr.
32
Letztlich bedarf es jedoch keiner abschließenden Klärung, ob Rundfunkbeitragsbescheide im Allgemeinen vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen werden dürfen und tatsächlich erlassen werden und ob letzteres gerade auch bezogen auf den Festsetzungsbescheid vom 2. Januar 2017 der Fall gewesen ist.
Hätte das Gericht mit einer Akteneinsicht ermitteln sollen. Im Verwaltungsrecht gibt es den Grundsatz, dass das Gericht selbst ermittelt.
33
Denn jedenfalls wäre auch dann, wenn der Festsetzungsbescheid vom 2. Januar 2017 ursprünglich vollständig durch automatisierte Einrichtungen erlassen worden wäre, der darin liegende Rechtsfehler dadurch geheilt worden, dass im Widerspruchsverfahren die hierfür beim Beklagten zuständigen Personen diese Entscheidung überprüft und sie im Widerspruchsbescheid bestätigt haben.
Das funktioniert nur bei Festsetzungsbescheiden, die ein Verwaltungsakt sind. Der Festsetzungsbescheid vom 2. Januar 2017 ist kein Verwaltungsakt, sondern: nichts. Die erforderliche Rechtsvorschrift ist erst im Juni 2020 in Kraft getreten.
Damit ist dem Zweck der gesetzlichen Regelung des § 35 a VwVfG – zu verhindern, dass Verwaltungsakte ohne jede Beteiligung eines Menschen auch in Bereichen erlassen werden und wirksam bleiben, in denen dies nicht durch Rechtsvorschrift zugelassen ist – Genüge getan.
Es handelt sich nicht um ein rechtswidriges Handeln in Einzelfällen, sondern um ein systematisch rechtswidriges Handeln des Beklagten - über drei Jahre.
Denn jedenfalls mit der Überprüfung im Widerspruchsverfahren ist die im Einzelfall getroffene Entscheidung über die Beitragsfestsetzung nunmehr auf die Entscheidung einer autorisierten Person beim Beklagten rückführbar und nicht nur Ergebnis eines automatisierten Prozesses ohne menschliche Beteiligung.
Mit dieser Logik wird das Rechtsstaatsprinzip verletzt: Dann kann eine Behörde in beliebiger Weise rechtswidrige und nichtige Bescheide erlassen. Der betroffene Bürger "kann ja immer noch" Widerspruch erheben. Damit wird das Vorverfahren ad absurdum geführt. Hier von den LRA in systematischer Weise.
Das Urteil enthält in Rn 30 den Rechtsfehler, dass nicht einmal konkret "Amtswalter" für die angefochtenen Festsetzungsbescheide benannt werden. Das VG begnügt sich mit einer - aus technischer Sicht vollkommen irrealen - Spekulation, dass da schon jemand mehrfach aufs Knöpfchen für die diversen Festsetzungsbescheide gedrückt haben wird. Das Gericht hat nicht einmal Akteneinsicht genommen, sondern mutmaßt, dass die Festsetzungsbescheide durch den Willen eines Amtswalters zustandegekommen seien, und weist dann auf dieser Grundlage die Klage ab.
Übrig bleibt nur der "Joker", dass der Widerspruchsbescheid den Nicht-Festsetzungsbescheid "ersetzt". Das geht denklogisch nicht. Ein Widerspruchsbescheid kann nicht an die Stelle eines Nicht-Verwaltungsakts treten. Der Widerspruchsbescheid wäre allenfalls überhaupt der erste Bescheid, gegen den dann ein regelrechter Widerspruch zu erheben wäre.