Nachstend zitiert wird die Stellungnahme des Generalanwaltes, da es noch keine Entscheidung des EuGH zum Sachverhalt hat. Die Vorlage stammt vom Verwaltungsgericht Wiesbaden und würde somit Deutschland betreffen.
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MICHAL BOBEK
vom 19. November 2020(1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Red Notice der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) – Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Ne bis in idem – Art. 21 AEUV – Freier Personenverkehr – Richtlinie (EU) 2016/680 – Verarbeitung personenbezogener Daten“
Rechtssache C-505/19
WS gegen Bundesrepublik Deutschlandhttps://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=233944&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=56668453) Bilaterale völkerrechtliche Verpflichtungen der Union und der Mitgliedstaaten
74. Drittens erkenne ich an, dass das Argument einiger Streithelfer, wonach der Grundsatz ne bis in idem nach dem Abkommen EU-USA keinen absoluten Ablehnungsgrund darstelle, zumindest auf den ersten Blick nicht unbeachtlich ist. Es erscheint nicht fernliegend, anzunehmen, dass dann, wenn der Unionsgesetzgeber den Grundsatz ne bis in idem mit einer Reichweite auch „außerhalb von Schengen“ hätte versehen wollen, möglicherweise ein Ad-hoc-Ablehnungsgrund in das Abkommen hätte aufgenommen werden müssen.
75. Bei näherer Betrachtung ist dieses Argument jedoch keineswegs maßgebend. Zunächst bedarf es kaum einer Erwähnung, dass es verschiedene Gründe haben kann, dass eine konkrete Bestimmung zu dieser Frage fehlt, etwa dass die US-Behörden sie nicht akzeptieren wollten(28). Vor allem aber ist auf Art. 17 Abs. 2 des Abkommens EU-USA hinzuweisen, wonach „in den Fällen, in denen die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates oder die für diesen verbindlichen endgültigen richterlichen Entscheidungen ein Hindernis für die Erfüllung seiner Auslieferungspflicht darstellen können und dieses Abkommen oder der geltende bilaterale Vertrag keine Regelung dieser Angelegenheit vorsehen, … sich der ersuchte und der ersuchende Staat [konsultieren]“.
76. Dieser Bestimmung ist zu entnehmen, dass die Vertragsparteien die Möglichkeit anerkennen, dass bestimmte Verfassungsgrundsätze oder endgültige richterliche Entscheidungen innerhalb ihrer jeweiligen Rechtsordnungen „ein Hindernis für die Erfüllung [ihrer] Auslieferungspflicht darstellen können“, auch wenn die Parteien nicht vorgesehen haben, dass sich daraus ein absoluter Ablehnungsgrund ergibt(29). Dass ein solcher Grundsatz oder eine solche Entscheidung der Auslieferung nicht automatisch entgegensteht, sondern die Behörden verpflichtet, das im Abkommen vorgesehene Konsultationsverfahren einzuleiten, ändert nichts daran, dass das rechtliche Hindernis besteht (und verbindlich ist).
77. Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, dass, wie von mehreren Regierungen vorgetragen, das Abkommen EU-USA die Auslieferung in Fällen, in denen möglicherweise der Grundsatz ne bis in idem gilt, nicht regelt und diese Frage somit nach derzeitiger Rechtslage ausschließlich durch das nationale Recht geregelt ist. In diesem Zusammenhang ist die deutsche Regierung weiter der Ansicht, dass eine weite Auslegung von Art. 54 SDÜ sich negativ auf die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der Union und Drittstaaten auswirken würde, weil sie ihnen die Erfüllung völkerrechtlicher Verträge, denen sie als Vertragspartei angehörten (und somit des Grundsatzes pacta sunt servanda), erschweren, wenn nicht unmöglich machen könnte.
78. Richtig ist, dass mangels einer unionsrechtlichen Regelung der Frage die Regelungen über die Auslieferung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen(30). Soweit Situationen jedoch unionsrechtlich geregelt sind, sind die betreffenden nationalen Regelungen im Einklang mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den durch Art. 21 AEUV garantierten Freiheiten, anzuwenden(31).
79. Bereits 1981 hat der Gerichtshof festgestellt, dass „für die Strafgesetzgebung und die Strafverfahrensvorschriften … grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig [bleiben]. Das Gemeinschaftsrecht [setzt] jedoch auch auf diesem Gebiet hinsichtlich derjenigen Kontrollmaßnahmen Schranken, deren Aufrechterhaltung den Mitgliedstaaten … im Rahmen des freien Waren- und Personenverkehrs gestattet ist.“(32) Dies muss erst recht 40 Jahre später gelten, nachdem sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, ihren Bürgerinnen und Bürgern „einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts [im Folgenden: RFSR] ohne Binnengrenzen [zu bieten], in dem … der freie Personenverkehr gewährleistet ist“(33).
80. Dementsprechend steht es den Mitgliedstaaten der Union in der Tat weiterhin frei, den Bereich zu regeln und bilaterale (oder multilaterale) Abkommen mit Drittstaaten abzuschließen. Dies ist jedoch nur insoweit zulässig, als sie keine Verpflichtung eingehen, die mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen nicht im Einklang steht. Grundsätzlich dürfen die Mitgliedstaaten selbst in Bereichen, die in die nationale Zuständigkeit fallen, außerhalb des besonderen Kontexts von Art. 351 AEUV ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen nicht im Wege von mit Drittländern geschlossenen Übereinkünften umgehen oder davon abweichen. Dies würde, grundsätzlich betrachtet, den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts in Frage stellen(34).
81. Diesen Gesichtspunkten kommt in der vorliegenden Rechtssache, die ein in der Charta geregeltes Recht betrifft, besondere Bedeutung zu. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Befugnisse der Union unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben sind und die Auslegung eines aufgrund dieser Befugnisse erlassenen Rechtsakts und – gegebenenfalls – die Festlegung seines Anwendungsbereichs im Licht des einschlägigen Völkerrechts zu erfolgen haben(35). Der Gerichtshof hat jedoch ebenso klargestellt, dass dieser Vorrang des Völkerrechts vor Bestimmungen des Unionsrechts sich nicht auf das Primärrecht der Union und insbesondere die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, zu denen die Grundrechte gehören, erstreckt(36). Dementsprechend könnten weder die Union noch die Mitgliedstaaten (sofern sie innerhalb des Rahmens der Unionsverträge handeln) einen möglichen Verstoß gegen die Grundrechte mit einer ihnen obliegenden Verpflichtung zur Einhaltung eines oder mehrerer völkerrechtlicher Verträge oder Rechtsakte rechtfertigen.
82. Jedenfalls dürfte das Argument, wonach die hier vertretene Auslegung von Art. 54 SDÜ den Mitgliedstaaten die Einhaltung des Grundsatzes pacta sunt servanda erschweren, wenn nicht unmöglich machen würde, zumindest was das Interpol-Übereinkommen angeht, nicht zutreffen. Durch eine von Interpol ausgestellte Red Notice sind ihre Mitglieder nicht verpflichtet, die gesuchte Person unter allen Umständen zu verhaften oder Maßnahmen zur Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit zu ergreifen. Sie müssen Interpol und den ersuchenden Staat unterrichten, wenn eine gesuchte Person in ihrem Hoheitsgebiet aufgefunden wurde; alle sonstigen Maßnahmen, einschließlich solcher zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit dieser Person, sind jedoch nach Art. 87 der Datenverarbeitungsvorschriften von Interpol nur insoweit zu ergreifen, als dies „nach nationalem Recht und geltenden völkerrechtlichen Verträgen zulässig ist“(37). Diese Bestimmung nennt nämlich als eine mögliche Alternative zu Maßnahmen, mit denen die Bewegungsfreiheit dieser Person eingeschränkt wird, auch die „Überwachung“ der gesuchten Person. Wie im Übrigen in Nr. 27 oben erwähnt, ist ein Staat durch eine Red Notice keineswegs zur Auslieferung der Person, gegen die diese ausgestellt wird, verpflichtet. Hierzu ist ein besonderes Ersuchen erforderlich, das nicht in den Bestimmungen von Interpol geregelt ist.
83. Dementsprechend kann meines Erachtens Art. 54 SDÜ auf Fälle Anwendung finden, in denen eine Person in einem Drittstaat vor Gericht gestellt wurde oder werden könnte. Wenn die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem auf horizontaler Ebene von einem Mitgliedstaat verbindlich festgestellt worden ist, ist die betreffende Person durch diesen Grundsatz vor einer Auslieferung wegen derselben Tat durch jeden anderen Mitgliedstaat geschützt. Dieses ist der Rahmen, in dem der Grundsatz ne bis in idem und die gegenseitige Anerkennung Anwendung finden: Ein zweiter (oder dritter oder sogar vierter) Mitgliedstaat ist verpflichtet, anzuerkennen und zu akzeptieren, dass der erste Mitgliedstaat das Auslieferungsersuchen geprüft hat, zu seiner Überzeugung festgestellt hat, dass in der Tat eine Übereinstimmung zwischen einer früheren Verurteilung in der Union und der/den Tat(en), dere(n)twegen um Auslieferung ersucht wird, besteht, zu dem Schluss gekommen ist, dass für diese Taten der Grundsatz ne bis in idem greift, und das Auslieferungsersuchen auf dieser Grundlage abgelehnt hat(38).
84. So betrachtet kann eine bereits abgeschlossene Prüfung des Bestehens eines Auslieferungshindernisses nach dem Grundsatz ne bis in idem durch den ersten, mit dem Ersuchen befassten Mitgliedstaat schließlich für alle anderen Mitgliedstaaten, die mit einem nachfolgenden Auslieferungsersuchen gegen dieselbe Person befasst werden, verbindlich sein. In diesem Rahmen gibt es jedoch entgegen einer Reihe in diesem Abschnitt vorgetragener, auf das Völkerrecht und politische Erwägungen abhebender Argumente mehrerer Streithelfer (mit Sicherheit) keine (unmittelbare) Einschränkung für bilaterale Abkommen oder völkerrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Diese können sicherlich zur Anwendung kommen, wenn der Mitgliedstaat tatsächlich der erste Staat ist, der mit der Sache befasst ist. Erforderlich ist lediglich, die Entscheidung zu akzeptieren, die in derselben Sache bereits von einem anderen Mitgliedstaat innerhalb der Union getroffen wurde. Sobald diese Entscheidung getroffen ist und ein Auslieferungsersuchen abgelehnt wurde, genießt ein Unionsbürger einen gewissen „Schutzschirm“ innerhalb der Union, womit er sich innerhalb der Union frei bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, wegen derselben Tat(en) strafrechtlich verfolgt zu werden.
96. Solange die Behörden des zuständigen Mitgliedstaats nicht überprüfen konnten, ob der Grundsatz ne bis in idem gilt, muss es ihnen selbstverständlich gestattet sein, die Red Notice umzusetzen und gegebenenfalls und soweit erforderlich, die Freizügigkeit der gesuchten Person einzuschränken. Tatsächlich gibt es im Unionsrecht keine Grundlage, wonach sie daran gehindert sein könnten, ihren nationalen Regelungen oder gegebenenfalls anwendbaren völkerrechtlichen Verträgen nachzukommen. Sobald diese Entscheidung jedoch von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats gegebenenfalls dahin getroffen wurde, dass der Grundsatz ne bis in idem für eine bestimmte Red Notice wirksam greift, sind alle anderen Mitgliedstaaten an diese konkrete rechtskräftige Feststellung gebunden.
97. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist es den Mitgliedstaaten meines Erachtens nach Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta und Art. 21 Abs. 1 AEUV verwehrt, eine von Interpol auf Ersuchen eines Drittstaats ausgestellte Red Notice umzusetzen und damit die Freizügigkeit einer Person einzuschränken, wenn eine rechtskräftige Entscheidung der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats über die tatsächliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem für die konkreten Vorwürfe, derentwegen diese Notice ausgestellt wurde, ergangen ist.
105. Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 müssen die Mitgliedstaaten u. a. sicherstellen, dass personenbezogene Daten „auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden“ (Buchst. a), „für … rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden“ (Buchst. b) und „sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sind“ (Buchst. d). In Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie heißt es wiederum: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung nur dann rechtmäßig ist, wenn und soweit diese Verarbeitung für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken wahrgenommenen wird, und auf Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten erfolgt.“
121. Es ist daher gerade die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im konkreten Einzelfall, die eine gewisse Weiterverarbeitung der in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten erforderlich machen kann. Zu bedenken ist, dass die Weiterverarbeitung nicht nur im Interesse der Behörden der Mitgliedstaaten erfolgt, sondern auch oder vielleicht sogar gerade auch im Interesse der Person, gegen die die Red Notice ausgestellt wurde. Andernfalls, wenn also sämtliche Daten sofort gelöscht werden müssten, sobald der Grundsatz ne bis in idem greift, hätte dies eher seltsame Folgen: Das rechtlich vorgesehene Gedächtnis der nationalen Polizeibehörden würde zu demjenigen von Dory, dem Fisch (der immer noch nach Nemo sucht(54)), so dass die gesuchte Person letztendlich in einer wenig glücklichen Wiederholung von Bill Murrays Murmeltiertag(55) für die betreffenden strafrechtlichen Vorwürfe wieder und wieder den Schutz nach dem Grundsatz ne bis in idem geltend machen und darlegen müsste.
126. In diesem Zusammenhang mag vielleicht der Hinweis darauf lohnenswert sein, dass nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2016/680 der Verantwortliche die Einhaltung des Kriteriums der Notwendigkeit nachweisen muss. Es ist auch daran zu erinnern, dass eine betroffene Person bestimmte Rechte nach den Art. 12 bis 18 der Richtlinie genießt.
130. Die Antwort auf diese Frage wäre angesichts ihrer Formulierung recht einfach. Die Bestimmungen der Richtlinie 2016/680 sind insoweit klar: Eine internationale Organisation verfügt nicht über ein angemessenes Datenschutzniveau im Sinne der Richtlinie 2016/680, wenn weder ein Angemessenheitsbeschluss nach Art. 36 dieser Richtlinie noch geeignete Garantien im Sinne von Art. 37 dieser Richtlinie gegeben sind, es sei denn eine der Ausnahmen in Art. 38 der Richtlinie findet Anwendung.
Die eigentliche Entscheidung des Gerichtshofes wird freilich nachgetragen.
Entsprechend den in Rot erfolgten Hervorhebungen und übereinstimmend zu den im Forum bereits bekannten weiteren Entscheidungen des EuGH ist die Aussage zulässig, daß in der gesamten Union nichts rechtens ist, was nicht mit dem Unionsgrundrecht übereinstimmt, da selbst nationale Maßnahmen des Strafrechts dem Unionsgrundrecht entsprechen müssen.
Insofern ist Art. 11 GrCh höherrangig als Art 10 EMRK; wenn eine Maßnahme gegen Art 10 EMRK verstößt, verstößt sie automatisch gegen Art 11 GrCh, jedenfalls in allen vom Unionsrecht geregelten Bereichen wie bspw. Datenschutz, Verbraucherschutz und audio-visuelle Medien.
Bei Verarbeitung pers.-bez.-Daten ist das Unionsgrundrecht unmittelbar bindend; (BVerfG 1 BvR 276/17 & BVerfG 1 BvR 16/13)
Keine Unterstützung für
- Amtsträger, die sich über europäische wie nationale Grundrechte hinwegsetzen oder dieses in ihrem Verantwortungsbereich bei ihren Mitarbeitern, (m/w/d), dulden;
- Parteien, deren Mitglieder sich als Amtsträger über Grundrechte hinwegsetzen und wo die Partei dieses duldet;
- Gegner des Landes Brandenburg wie auch gesamt Europas;