http://www.jr.co.il/articles/tv.txtTelevision Addiction Is No Mere Metaphor
By Robert Kubey and Mihaly Csikszentmihalyi
Scientific America feature article
http://www.sciam.com/2002/0202issue/0202kubey.htmlPDF-Datei für englische Version:
http://www.shenet.org/high/hsacaddept/English/ddayton/Documents/Media/Television%20Addiction%20is%20no%20Mere%20Metaphor.pdfsowie weitere PDF-Datei für die englische Version:
http://www.simpletoremember.com/vitals/TVaddictionIsNoMereMetaphor.pdfDeutsche Übersetzung ohne Teil über die Wirkung des Computers (ohne Gewähr):
Fernseh-Abhängigkeit ist nicht bloß ein Begriff
von Robert Kubey und Mihaly Csikszentmihalyi
Spezieller Scientific America-Artikel
„Vielleicht ist es einer ironischsten Aspekte des Kampfes ums Dasein, wie leicht Organismen durch das, was sie begehren, geschädigt werden können. Die Forelle wird durch des Fischers Köder gefan-gen, die Maus durch Käse. Jedoch haben diese Geschöpfe wenigstens als Ausrede, daß Köder und Käse Nahrung bedeuten. Menschen können selten auf solche Ausflüchte zurückgreifen. Die Versu-chungen, die ihr Leben zerbrechen können, entstehen aus reiner Schwäche. Niemand zum Beispiel muß Alkohol trinken. Wahrzunehmen, wann ein Zeitvertreib außer Kontrolle geraten ist, ist eine der größen Lebensherausforderungen überhaupt.
Ausufernde Begierden verursachen nicht notwendigerweise materielle Substanzen. Spielen kann zwanghaft werden; von Sex kann man besessen werden. Eine Aktivität jedoch sticht wegen ihrer Bedeutung und Allgegenwart heraus: der Welt beliebtester Zeitvertreib – Fernsehen. Die meisten Leute haben dazu eine Art Haßliebe entwickelt. Zum einen beschweren sie sich über die Glotze und 'Couch potatoes', zum anderen setzen sie sich aufs Sofa und greifen nach der Fernbedienung. Eltern machen sich gemeinsam über Sendungen ihrer Kinder sorgen (wenn nicht sogar über ihre eigenen). Sogar Forscher, die Fernsehen für den Lebensunterhalt untersuchen, staunen über den Griff, in dem das Medium sie persönlich hält. Percy Tannenbaum von der Universität von Kalifornien in Berkeley meint: 'Einer der peinlichsten Momente in meinem Leben waren die zahllosen Anlässe, bei denen ich mich in einem Raum mit angeschaltetem Fernsehgerät in einer Unterhaltung befand und ich es dabei nicht im Mindesten vermeiden konnte, dabei regelmäßig auf den Bildschirm zu schielen. Dies passierte etwa nicht nur während langweiliger Unterhaltungen, sondern ebenso auch im Verlaufe interessanter Gespräche.'
Wissenschaftler haben die Wirkungen von Fernsehen seit Jahrzehnten untersucht, normalerweise um herauszufinden, ob das Beobachten von Gewalt im Fernsehen mit Gewaltbereitschaft im realen Leben korreliert (Berkowitz, Leonard, The Effects of Observing Violence, in: Scientific American, Februar 1964; Gerbner, Georg, Communication and Social Environment, in: Scientific American Bd. 227.1972, 3, S. 152-160). Weniger Aufmerksamkeit wurde der grundsätzlichen Anziehungs-kraft der kleinen Mattscheibe gezollt – das Medium als Gegensatz zu seiner Botschaft.
Der Begriff 'Fernsehabhängigkeit' ist unpräzise und mit Bewertungen überfrachtet, aber er bringt ein sehr reales Phänomen auf den Punkt. Psychologen und Psychiater definieren formal Substanzab-hängigkeit als eine Störung, die durch Kriterien derart gekennzeichnet ist, daß ein Großteil der Zeit damit verbracht wird, die entsprechende Substanz zu verwenden, sie öfter als beabsichtig zu gebrau-chen, darüber nachzudenken, wie man ihren Gebrauch zu reduzieren gedenkt bzw. über entspre-chende wiederholte erfolglose Bemühungen ihrer Reduzierung, wichtige soziale, familiäre oder Arbeitsbeziehungen aufgrund ihres Gebrauch zu vernachlässigen und über Entzugssymptome bei Abbruch ihrer Verwendung zu berichten.
Alle diese Kriterien können auch auf Situationen übertragen werden, die durch einen starken Fern-sehkonsum gekennzeichnet werden. Dies bedeutet nicht, daß es an sich problematisch ist, fernzuse-hen. Fernsehen kann bilden und unterhalten, es kann ästhetischen Ansprüchen genügen und es kann notwendige Ablenkung und Flucht aus dem Alltag bieten. Die Schwierigkeit entsteht dann, wenn die Fernsehkonsumenten das starke Gefühl haben, daß sie nicht soviel schauen sollten, wie sie es tatsächlich tun, sich aber irgendwie für unfähig betrachten, ihre Sehgewohnheiten zu ändern. Einige Kenntnisse darüber, auf welche Art und Weise das Medium seinen Bann ausübt, mag Zuschauern mit hohem Fernsehkonsum helfen, um ihr Leben besser unter Kontrolle halten zu können.
Ein Körper tendiert zur Ruhe
Der Zeitumfang, der für das Fernsehen aufgebracht wird, ist frappierend. Durchschnittlich verbringt sich jede Person im industrialisierten Teil der Welt drei Stunden täglich mit dieser Betätigung – die Hälfte ihrer Freizeit, und mehr als jede andere Tätigkeit außer Arbeit und Schlafen. Bei dieser Quo-te verbringt jemand bis zu seinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr neun Jahre vor der Mattscheibe. Für manche Verhaltensbeobachter bedeutet diese Hingabe einfach, daß die Leute einen Genuß durch Fernsehen empfinden und sie dabei bewußt sind, daß sie gerade die Entscheidung fällen, fernzuse-hen. Aber wenn dies die ganze Geschichte wäre, würden nicht soviele Leute ein Unbehagen über das Ausmaß ihres Fernsehkonsums empfinden. In einer Meinungsumfrage des Gallup-Meinungs-forschungsinstituts (USA) aus den Jahren 1992 und 1999 äußerten sich zwei von fünf erwachsenen und sieben von zehn Umfrageteilnehmern im Teenager-Alter dahingehend, daß sie zuviel Zeit mit Fernsehen verbringen. Andere Umfragen zeigten kontinuierlich, daß rund zehn Prozent der Erwach-senen sich selbst als fernsehabhängig betrachten.
Um die menschlichen Reaktionen auf das Fernsehen zu testen, entwickelten Forscher Laborexperi-mente, bei denen sie die Hirnwellen in Form eines EEGs, den Hautwiderstand und die Herzschlag-frequenz aufzeichneten.
Um Verhalten und Gefühle für dem normalen Alltagsablauf in Unterschied zu Laborbedingungen nachvollziehen zu können, nutzten wir die sogenannte 'Experience Sampling Method' (ESM).
(
http://en.wikipedia.org/wiki/Experience_sampling_method ) Teilnehmer trugen einen Pager (sehr kleine Funkgerät, das jemand mit sich führt und das Signaltöne aussendet, wenn der Träger gesucht wird.), der sechs bis acht Mal täglich während einer Woche angerufen wurde. Immer wenn die Stu-dienteilnehmer das Signal hörten, schrieben sie auf einen standardisierten Fragebogen nieder, was sie gerade taten und wie sie sich dabeo zu diesem Zeitpunkt fühlten.
Wie erwartet berichteten angepiepte Studienteilnehmer, die gerade fernsahen, daß sie entspannt und passiv waren. Die EEG-Aufzeichnungen zeigten in ähnlicher Weise während des Zeitraums des Fernsehkonsums weniger mentale Stimulierung als beim Lesen.
Was aber mehr als überraschend ist, ist, daß das Entspannungsempfinden genau dann aufhörte, als der Fernsehapparat ausgeschaltet wurde, während das Passivitätsgefühl und die geringere Wach-samkeit anhielt. Studienteilnehmer stellten allgemein fest, daß das Fernsehen irgendwie ihre Energie absorbiert oder ausgesogen hätte, daß sie nach dem Schauen mehr Schwierigkeiten hatten, sich zu konzentrieren. Dagegen gaben sie solche Schwierigkeiten selten nach dem Lesen an. Nach Sport- oder Hobbyaktivitäten berichteten die Teilnehmer Stimmungsaufhellungen. Nach einen Fernseh-konsum bleibt die Stimmung entweder genauso oder aber schlechter.
Kurz nach dem Hinsetzen oder -legen sowie dem Anschalten des Fernsehgerätes berichten Studien-teilnehmer, entspannter zu sein, wobei sie darauf geeicht sind, mit dem Fernsehkonsum Erholung und Entspannung assoziieren. Diese Assoziation wird zudem noch einmal dadurch verstärkt, daß Fernsehzuschauer während des Sehens entspannt bleiben, und diese Assoziation noch zusätzlichen Impetus erhält, daß sich nach Abschalten des Geräts Dystress und dysphorisches Grübeln entwi-ckelt.
Gewohnheitsformende Drogen arbeiten in ähnlicher Weise. Ein Beruhigungsmittel, das der Körper schnell wieder aussscheidet, verursacht viel wahrscheinlicher eine Abhängigkeit als eines, das der Körper langsam ausscheidet, da der Betroffene sich über das Nachlassen der medikamentösen Wir-kungen viel bewusster wird. In ähnlicher Weise spüren aufgrund unterschwelliger Erfahrungen nach Beendigung des jeweiligen Fernsehens, daß sie weniger entspannt sein werden, was dazu geführt hat, daß dies ein signifikanter Grund dafür sein mag, den Fernsehapparat nicht auszuschalten. Fernsehen erzeugt mehr Fernsehen.
Deshalb die Ironie des Fernsehens: die Leute schauen viel länger, als sie dies beabsichtigen, obwohl längeres Schauen sich eigentlich nicht lohnt. In unseren ESM-Studien äußerten die Befragten dahin-gehend, daß je länger sie vor dem Fernseher saßen, er ihnen umso weniger Befriedigung vermittelte. Wenn angepiept tendierten die Fernsehkonsumenten mit hoher Fernsehzeitdauer (jene, die ständig mehr als vier Stunden pro Tag fernsehen) auf ihrem ESM-Fragebogen von weniger Genuß während des Fernsehkonsums zu berichten als Zuschauer mit niedriger Fernsehzeitdauer. Gewissensbisse, Unbehangen und Schuldgefühle darüber, daß sie sich nicht produktiver betätigen würden, begleiten und beeinträchtigen einige bei längerem Fernsehkonsum. Forscher aus Japan, dem Vereinigten Kö-nigreich und den USA fanden heraus, daß dieses Schuldgefühl viel mehr unter Zuschauern aus der Mittelklasse als unter weniger Wohlhabenden verbreitet ist.
Ihre Aufmerksamkeit im Griff
Was ist das beim Fernsehen, was uns so in seinen Bann zieht? Zum Teil scheint die Anziehungs-kraft daraus zu erwachsen, daß sie Teil unserer biologischen 'orientierenden Reaktion' berührt. Als erstes bei Ivan Pavlov im Jahre 1927 beschrieben bildet sich aufgrund eines plötzlichen oder neuen Reizes die 'orientierende Reaktion' in Form einer instinktiven visuellen oder Hörreaktion ab. Sie ist Teil unseres evolutionären Erbes, eine eingebaute Sensibilität gegenüber Bewegung sowie poten-tiellen Bedrohungen durch Raubtiere. Typische 'orientierende Reaktionen' sind die Erweiterung der Blutgefäße zum Gehirn, die Verlangsamung der Herzschlagfrequenz sowie die Verengung der Blutgefäße in den wichtigsten Muskelgruppen. Alpha-Wellen werden für einige Sekunden blockiert, bevor sie zu den Werten ihrer Grundlinie des allgemeinen Erregungszustands zurückkehren. Das Gehirn fokussiert seine Aufmerksamkeit auf das Sammeln von mehr Informationen, während der restliche Körper ruht.
1986 begannen Byron Reeves von der Stanford-Universität, Esther Thorson von der Universität des Bundesstaates Missouri und ihre Kollegen eine Studie, bei der die einfachen formalen Merkmale des Fernsehverlaufs – Bildschnitte, Bildbearbeitungen, Zooms, Kameraschwenks, plötzliche Ge-räusche – die 'orientierende Reaktion' mit der Reaktionsform der Aufmerksamkeit gegenüber dem Bildschirm korrelierten. Durch die Beobachtung des Einflusses dieser einfachen formalen Merkma-le auf das Hirnwellenmuster schlossen die Forscher, daß stilistische Kniffe unwillkürliche Reak-tionen auslösen können und 'ihr Aufmerksamkeitsimpetus aus der evolutionären Bedeutung der Bewegungssuche entstammt (...) Es ist die Form, nicht der Inhalt, die Fernsehen einzigartig macht'.
Die 'orientierende Reaktion' erklärt die Bemerkungen normaler Zuschauer wie 'Wenn Fernsehen an ist, kann ich meinen Blick darauf nicht lassen.', 'Ich will nicht soviel fernsehen, wie ich es tue, aber ich kann nicht anders.' und 'Ich fühl mich hypnotisiert, wenn ich fernsehe.' teilweise. In den Jahren nach der Veröffentlichung der Pionierarbeit von Reeves und Thorson haben Forscher noch tiefer ge-graben. Annie Lang's Forscherteam von der Universität des Bundesstaates Indiana haben ein Absin-ken der Herzschlagfrequenz nach vier bis sechs Sekunden bei einem die 'orientierende Reaktion' auslösenden Reiz nachgewiesen. Im Verlauf von Fernsehwerbungen kommen die einfachen forma-len Merkmale in Bewegungssequenzen und Musikvideos regelmäßig jede Sekunde, so daß die 'orientierende Reaktion' kontinuierlich angesprochen wird.
Lang und ihre Kollegen haben auch untersucht, wie die einfachen formalen Merkmale die Gedächtniskapazität darüber, was sie gesehen haben, beeinflussen. In einer ihrer Studien schauten Teilnehmer ein Fernsehprogramm und füllten danach einen Fragebogen aus. Mit steigender Frequenz des einfachen formalen Merkmals 'Bildbearbeitung' - hier definiert während derselben visuellen Szene als einen Wechsel von einem Kamerawinkel zum anderen – verbesserte sich das Erinnerungsvermögen, mutmaßlich aufgrund der stärkeren Konzentration auf den Bildschirm, der zu einer größeren Aufmerksamkeit führte. Die Frequenzerhöhung der Bildschnitte – Wechsel zu ei-ner neuen visuellen Szene – hatte bis zu einem gewissen Punkt einen ähnliche Wirkung. Wenn die Zahl der Schnitte zehn innerhalb von zwei Minuten überschritten wurde, sank die Erinnerungsfähig-keit drastisch ab.
Produzenten des Bildungsfernsehens für Kinder fanden heraus, daß formale Merkmale den Lernvor-gang beeinflussten. Durch Erhöhung der Bildschnitte und -bearbeitungen wird das Gehirn schließ-lich überlastet. Musikvideos und Fernsehwerbungen, die rasch wechselnde beziehungslose Szenen zusammenschneiden, werden mit dem Ziel entworfen, die Aufmerksamkeit mehr zu fesseln als dies jeweils Informationen vermitteln können. Die Leute können den Namen des Produkts oder der Band erinnern, aber die Details der Fernsehsendung selbst geht in das eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus.
Die 'orientierende Reaktion' ist überreizt. Zuschauer gucken trotzdem auf den Bildschirm, fühlen sich aufgrund geringer psychologischer Belohnung jedoch müde und ausgewrungen. Unsere ESM-Ergebnisse zeigen denselben Umstand.
Manchmal ist die Erinnerung an das Produkt sehr subtil. Viele Fernsehwerbungen sind heutzutage mit Bedacht verdeckt: sie haben eine fesselnde Dramaturgie, aber es ist schwierig festzustellen, was sie zu verkaufen suchen. Danach kann man sich an das Produkt bewußt nicht erinnern. Trotzdem glaubt die Werbeindustrie, daß, wenn sie unsere Aufmerksamkeit erheischt hat, wir uns beim La-denbesuch besser oder wohler gegenüber dem beworbenen Produkt fühlen, da wir eine vage Wie-dererinnerung über das Wahrgenommene gespeichert haben.
Die natürliche Anziehungskraft zum Fernsehgeräusch und -licht beginnt früh im Leben. Dafna Le-mish von der Universität von Tel Aviv hat Säuglinge im Alter von sechs bis acht Wochen bei der Wahrnehmung von Fernsehen beschrieben. Unsere Forschungsgruppe hat ein wenig ältere Säuglin-ge dabei beobachtet, wie sie auf dem Boden auf dem Rücken liegend ihren Kopf um ungefähr 180 Grad reckten, um mitzubekommen, welches Licht durch ein ganz weitentferntes Fenster flimmerte. Diese Neigung zeigt, wie tiefverwurzelt die 'orientierende Reaktion' verankert ist.