Der Titel müsste eigentlich lauten:Zur Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist es auch bei der automatisierten Datenverarbeitung zwingend erforderlich, daß es wirksame Regeln hat, um Datenmißbrauch zu ahnden und zu unterbinden.
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
5. April 2022(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation – Vertraulichkeit der Kommunikation – Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste – Allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten – Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten – Nachträgliche gerichtliche Kontrolle – Richtlinie 2002/58/EG – Art. 15 Abs. 1 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 8 und 11 sowie Art. 52 Abs. 1 – Möglichkeit für ein nationales Gericht, die zeitliche Wirkung einer Ungültigerklärung nationaler Rechtsvorschriften, die mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, zu beschränken – Nichteinbeziehung“
In der Rechtssache C-140/20https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=257242&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=395041Rn. 54 Um dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit zu genügen, müssen nationale Rechtsvorschriften klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen und Mindesterfordernisse aufstellen, so dass die Personen, deren personenbezogene Daten betroffen sind, über ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen Schutz dieser Daten vor Missbrauchsrisiken ermöglichen. Diese Rechtsvorschriften müssen nach nationalem Recht bindend sein und insbesondere Angaben dazu enthalten, unter welchen Umständen und unter welchen Voraussetzungen eine Maßnahme, die die Verarbeitung solcher Daten vorsieht, getroffen werden darf, damit gewährleistet ist, dass sich der Eingriff auf das absolut Notwendige beschränkt. Das Erfordernis, über solche Garantien zu verfügen, ist umso bedeutsamer, wenn die personenbezogenen Daten automatisiert verarbeitet werden, vor allem wenn eine erhebliche Gefahr des unberechtigten Zugangs zu ihnen besteht. Diese Erwägungen gelten in besonderem Maß, wenn es um den Schutz der besonderen Kategorie sensibler personenbezogener Daten geht (Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C-511/18, C-512/18 und C-520/18, EU:C:2020:791, Rn. 132 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Rn. 44 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Speicherung der Verkehrs- und Standortdaten als solche zum einen eine Abweichung von dem nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 für alle anderen Personen als die Nutzer geltenden Verbot der Speicherung dieser Daten darstellt und zum anderen einen Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten, die in den Art. 7 und 8 der Charta verankert sind; dabei spielt es keine Rolle, ob die betreffenden Informationen über das Privatleben sensiblen Charakter haben und ob die Betroffenen durch diesen Eingriff Nachteile erlitten haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C-511/18, C-512/18 und C-520/18, EU:C:2020:791, Rn. 115 und 116 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Rn. 47 Insoweit ist hervorzuheben, dass die Vorratsspeicherung dieser Daten und der Zugang zu ihnen, wie sich aus der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, unterschiedliche Eingriffe in die in den Art. 7 und 11 der Charta garantierten Grundrechte darstellen, die eine gesonderte Rechtfertigung nach Art. 52 Abs. 1 der Charta erfordern. Daraus folgt, dass nationale Rechtsvorschriften, die die vollständige Einhaltung der Voraussetzungen gewährleisten, die sich aus der Rechtsprechung zur Auslegung der Richtlinie 2002/58 im Bereich des Zugangs zu auf Vorrat gespeicherten Daten ergeben, den schwerwiegenden Eingriff, der sich aus der nach diesen nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen allgemeinen Vorratsspeicherung dieser Daten in die in den Art. 5 und 6 dieser Richtlinie und durch die Grundrechte, deren Konkretisierung diese Vorschriften darstellen, garantierten Rechte ergeben würde, naturgemäß weder beschränken noch beseitigen können.
Nur am Rande:Rn. 63 Somit kann Kriminalität – auch besonders schwere Kriminalität – nicht mit einer Bedrohung der nationalen Sicherheit gleichgesetzt werden. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 49 und 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, könnte eine solche Gleichstellung nämlich eine Zwischenkategorie zwischen der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Sicherheit einführen, um auf die zweite Kategorie die Voraussetzungen der ersten Kategorie anzuwenden.
Rn. 65 Was das Ziel der Bekämpfung schwerer Kriminalität anbelangt, hat der Gerichtshof entschieden, dass nationale Rechtsvorschriften, die zu diesem Zweck die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen, die Grenzen des absolut Notwendigen überschreiten und nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt angesehen werden können. Angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die sich aus den Verkehrs- und Standortdaten ergeben können, ist deren Vertraulichkeit nämlich von entscheidender Bedeutung für das Recht auf Achtung des Privatlebens. In Anbetracht zum einen der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angesprochenen abschreckenden Wirkungen, die die Speicherung dieser Daten auf die Ausübung der in den Art. 7 und 11 der Charta verankerten Grundrechte haben kann, und zum anderen der Schwere des mit ihr verbundenen Eingriffs muss eine solche Speicherung in einer demokratischen Gesellschaft, wie es das durch die Richtlinie 2002/58 geschaffene System vorsieht, die Ausnahme und nicht die Regel sein, und solche Daten dürfen nicht Gegenstand einer systematischen und kontinuierlichen Speicherung sein. Dies gilt auch in Anbetracht der Ziele der Bekämpfung schwerer Kriminalität und der Verhütung ernster Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit sowie der Bedeutung, die ihnen beizumessen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C-511/18, C-512/18 und C-520/18, EU:C:2020:791, Rn. 141 und 142 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Rn. 73 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die allgemeine Speicherung der IP-Adressen der Quelle der Verbindung einen schweren Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte darstellt, da diese IP-Adressen es ermöglichen können, genaue Schlüsse auf das Privatleben des Nutzers des betreffenden elektronischen Kommunikationsmittels zu ziehen, und abschreckende Wirkung in Bezug auf die Ausübung der in Art. 11 der Charta garantierten Freiheit der Meinungsäußerung haben kann. Allerdings hat der Gerichtshof in Bezug auf eine solche Speicherung festgestellt, dass, um die widerstreitenden Rechte und berechtigten Interessen miteinander in Einklang zu bringen, wie es die in den Rn. 50 bis 53 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung verlangt, zu berücksichtigen ist, dass im Fall einer im Internet begangenen Straftat und insbesondere im Fall des Erwerbs, der Verbreitung, der Weitergabe oder der Bereitstellung im Internet von Kinderpornografie im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. 2011, L 335, S. 1) die IP?Adresse der einzige Anhaltspunkt sein kann, der es ermöglicht, die Identität der Person zu ermitteln, der diese Adresse zugewiesen war, als die Tat begangen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C-511/18, C-512/18 und C-520/18, EU:C:2020:791, Rn. 153 und 154).
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung ist im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften entgegensteht, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der Verkehrs- und der Standortdaten vorsehen. Dagegen steht der genannte Art. 15 Abs. 1 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte Rechtsvorschriften nicht entgegen, die zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit
– auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;
– für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP?Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen;
– eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen;
– vorsehen, dass den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufgegeben werden kann, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.
Diese Rechtsvorschriften müssen durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen.
2. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in der durch die Richtlinie 2009/136 geänderten Fassung ist im Licht der Art. 7, 8, 11 und von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen die zentralisierte Bearbeitung von Ersuchen um Zugang zu von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste auf Vorrat gespeicherten Daten, die von der Polizei im Rahmen der Ermittlung und Verfolgung schwerer Straftaten gestellt werden, einem Polizeibeamten obliegt, der von einer innerhalb der Polizei eingerichteten Einheit unterstützt wird, die bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben über einen gewissen Grad an Autonomie verfügt und deren Entscheidungen später gerichtlich überprüft werden können.
3. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht die Wirkungen einer ihm nach nationalem Recht in Bezug auf nationale Rechtsvorschriften, die den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorschreiben, obliegenden Ungültigerklärung wegen Unvereinbarkeit dieser Rechtsvorschriften mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in der durch die Richtlinie 2009/136 geänderten Fassung im Licht der Charta der Grundrechte zeitlich begrenzt. Die Zulässigkeit der durch eine solche Vorratsspeicherung erlangten Beweismittel unterliegt nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Beachtung u. a. der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität dem nationalen Recht.
Edit "Bürger": Gesammelte Auswahl an Threads zu diesem Thema:
EuGH C-140/20 - Allgemeine Vorratsdatenspeicherung unzulässig
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=35999.0
EuGH C-793/19 - Allgemeine Vorratsdatenspeicherung ist unionsrechtswidrig
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=35775.0
EuGH C-793/19 (DSGVO) Anlasslose Vorratsdatenspeicherung unionsrechtswidrig
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=36479.0
EuGH C-511/18 - Vorratsdatenspeicherung unionsrechtswidrig
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=34364.0
Verfassungsgericht zweifelt an der Vorratsdatenspeicherung (01/2018)
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=25919.0
Oberverwaltungsgericht NRW > Vorratsdatenspeicherung ist europarechtswidrig (06/2017)
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=23507.0
EuGH: Vorratsdatenspeicherung rechtswidrig (12/2016)
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=21401.0
Vorratsdatenspeicherung: Europas Richter greifen durch (04/2014)
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=8960.0
Bei Verarbeitung pers.-bez.-Daten ist das Unionsgrundrecht unmittelbar bindend; (BVerfG 1 BvR 276/17 & BVerfG 1 BvR 16/13)
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- Amtsträger, die sich über europäische wie nationale Grundrechte hinwegsetzen oder dieses in ihrem Verantwortungsbereich bei ihren Mitarbeitern, (m/w/d), dulden;
- Parteien, deren Mitglieder sich als Amtsträger über Grundrechte hinwegsetzen und wo die Partei dieses duldet;
- Gegner des Landes Brandenburg wie auch gesamt Europas;