Vielleicht kann ich ja einige Vorurteile ausräumen und euch etwas mehr zu den Leuten erzählen, die man hier als (Spät-)Aussiedler kennt.
Ihr dürft mich gerne korrigieren, falls ich etwas nicht ganz richtig erklärt habe, ich denke, hier sind noch mehr von dieser Gruppe meiner Landsleute im Forum vertreten, z.B. einer unserer Admins (Viktor), frei nach seinem Namen zu urteilen.
Einige Sachen werden aus Wikipedia übernommen, wo ich mir unsicher bin:
Seit 1950 sind ca. 4,5 Millionen Aussiedler aus Osteuropa, die meisten davon aus der ehemaligen Sowjetunion, nach Deutschland migriert. Kurz vor dem Zusammenbruch der UDDSR gab es einen Peak in der Zuwanderung. Überwog zu Beginn der Einwanderungswelle bis Anfang der 1990er Jahre der Anteil derjenigen in den Familien, die sich der deutschen Kultur zugehörig fühlten und auch Deutsch sprachen, so kamen mit der letzten Einwanderungswelle überwiegend Menschen ohne Kenntnisse oder mit nur geringen Kenntnissen der deutschen Sprache. Hierin ist auch ein Zusammenhang der religiösen Gesinnung zu erkennen.
Vor allem die konservativen Aussiedler haben überdurchschnittlich viele Kinder, sodass ich die Gesamtanzahl der Aussiedler mit Nachkommen in mittlerweile vierter, fünfter Generation bis auf ca. 8-10 Millionen schätze (Sterbensrate berücksichtigt).
Zur Geschichte:
Katharina II. erliess ein Einladungsmanifest vom 22. Juli 1763 und stellte ausländischen Siedlern eine Reihe von Privilegien in Aussicht:
Religionsfreiheit,
Befreiung vom Militärdienst,
Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als Sprache,
finanzielle Starthilfe,
30 Jahre Steuerfreiheit.
Vor allem in deutschen Fürstentümern wurden die Menschen von den Versprechungen gelockt, die Katharina II. durch ihre Anwerber in Zeitungen und Kirchen verbreiten ließ. Leider wendete sich das Blatt für die Siedler bald von der Privilegierung zur Diskriminierung, sodass diese insbesondere durch Stalin sehr dunkle Zeiten durchleben mussten.
Durch Hunger, Unterdrückung, Flucht, Deportationen, NS-Umsiedlungen oder Verbannung gelangten die deutschen Siedler in weite Gegenden der Sowjetunion, viele flohen über den Fluss Amur nach China, von dort aus nach Übersee über Rio nach Mittel- und Südamerika oder Kanada.
Bemerkenswert ist, dass diese Leute sich fast gar nicht mit anderen Kulturen vermischt haben und über einen Zeitraum von ca. 250 Jahren ihre eigene Kultur, Glauben und die Sprache (Plattdeutsch=ähnlich dem ostfriesischem Dialekt) beibehalten haben. Daher findet man heute fast auf der ganzen Welt Leute, mit denen man sich noch in dieser altdeutschen Sprache unterhalten kann, ob in Deutschland, Russland, Kanada, Paraguay, Uruguay, Mexiko oder Rio.
Die Aussiedlern, die in den 80ern und frühen 90ern eingereist sind, haben überwiegend einen christlichen Hintergrund oder sind selbst gläubig und einer Kirchengemeinde angehörig. Dies erklärt auch die relativ guten Deutschkenntnisse, da auch im Herkunftsland die (geheimen) Gottesdienste und das Bibelstudium in deutscher Sprache erfolgten. Sogenannte Spätaussiedler (seit ca. 1993) hatten immer seltener den rein-deutschen Hintergrund. Dies merkte man an den fehlenden Sprachkenntnissen, schlechtere Integrationsfähigkeit und vermehrter Kriminalitätshäufung.
Heute findet man in deutschen Städten viele (Aussiedler-)Christengemeinden mit unterschiedlichen Bezeichnungen (z.B.):
Baptisten (die ausschließliche Praxis der Gläubigentaufe oder Glaubenstaufe)
Mennoniten (evangelische Freikirche, die auf die Täuferbewegungen der Reformationszeit zurückgeht, benannt nach dem aus Friesland stammenden Theologen Menno Simons (1496–1561)
Pfingstler (in der charismatisch geprägten Pfingstbewegung hat das Werk des Heiligen Geistes eine zentrale Bedeutung bei Lehre und Glaubenspraxis)
Wesentlich seltener findet man die Aussiedler in Gemeinden der Siebenten-Tags-Adventisten oder der Zeugen Jehovas.
Einige Gemeinden verzichten auf diese Bezeichnung und treten als freievangelische Christengemeinde auf. Zwischen den Baptisten und Mennoniten gibt es grundsätzlich fast keinen merkbaren Unterschied in der Glaubenslehre.
Man kann aufgrund der Bezeichnung nicht pauschalisieren, ob diese Gruppierung streng gläubig ist oder nicht. Unabhängig von der Bezeichnung wird man bei allen auf sehr liberale, als auch auf sehr konservative Kirchengemeinden treffen.
In vielen Gemeinden wurde in Zeiten vor dem Internet der Fernseher oder das Radio als Medium nicht gern gesehen oder überhaupt nicht toleriert. Man versuchte sich und die Kinder dadurch vor der zunehmenden Sexualisierung und Gewaltdarstellung zu schützen. Ferner wurde alles mit E-Gitarre und Schlagzeug dem Genre "Rockmusik" zugeschrieben, welche keinen guten Einfluss auf den Christen hätte und daher auch das Radioprogramm gemieden. Positiver Nebeneffekt: man investierte stattdessen in die Zeit mit den Kindern, die infolgedessen überdurchschnittlich gute schulische Leistungen erzielten.
Interessant ist die Entwicklung in vielen Kirchengemeinden: Während die einen mit den Jahren deutlich liberaler und weltoffener geworden sind und trotzdem eine strikte bibeltreue Linie fahren, werden andere Kirchengemeinden umso konservativer. Dabei werden die Begründungen hierfür manchmal schon sehr abstrakt und für mich persönlich schwer mit der Bibel begründbar.
Heute hat das Internet die Frage des Fernsehers im Haushalt fast schon von selbst geklärt. Das Internet wird als wertvolle Informationsquelle gesehen und nicht in Frage gestellt. Natürlich ist es heute so einfach wie noch nie an entsprechend verruchte Seiten zu kommen. Hier kommt man an den Punkt, wo man merkt, dass man sich nicht vor allem negativen schützen kann, sondern eigentlich hätte lernen müssen, mit der Gefahr umgehen zu können, anstatt einfach zu verbieten.
Man wird also nicht in jeder (Aussiedler)-Kirchengemeinde Medien-Totalverweigerer aus Glaubensgründen finden, dafür sind diese zu unterschiedlich.
Ich denke trotzdem, dass diese Gruppierungen eine unheimlich starke Macht in unserer Gesellschaft hat, sich jedoch dessen nicht bewusst ist.
Man kann die Leute auch nicht unbedingt schneller Mobilisieren, als den hiesigen Deutschen, würde ich sagen. Es kommt darauf an, wofür. Grundsätzlich ist es eine sehr starke Gemeinschaft, die Familie hat eine sehr hohen Stellenwert. Es herrscht jedoch eine grundsätzliches Misstrauen, insbesondere was die Politik angeht. Ich führe das auf die jahrelange Verfolgung, Repressalien und Drangsalierung durch die russischen Behörden zurück, ähnlich in DDR.
Gewählt wird überwiegend die CDU, weil das "C" da drin vorkommt, ohne das Wahlprogramm entsprechend zu studieren. (Persönliche Anmerkung: Würden die sich mit dem Wahlprogrammen auseinandersetzen, wäre die AfD aufgrund der "traditionellen" Familienpolitik weit vorn, schätze ich)
Grundsätzlich herrscht das allgemeine Denken vor, dass Politisches Mitwirken und Glaube nicht miteinander im Einklang stehen können. Eine politische Beeinflussung von der Kanzel findet grundsätzlich nicht statt, wahrscheinlich ist diese auch gesetzlich verboten.
Fast ausschliesslich alle, mit denen ich über den Rundfunkbeitrag gesprochen haben, zeigen keine Akzeptanz für selbigen, insbesondere, weil entsprechende Medien nicht genutzt und auch schlichtweg nicht vorhanden sind.
Leider wird man die ältere Generation kaum zum Protest bewegen können, da die der Überzeugung sind "...dem Kaiser, was des Kaisers ist, ..." (Lukas 20:25), die jüngeren Generationen sind da schon wesentlich kritischer und setzen sich mit den Themen stärker auseinander.
Das Verhalten der Alten wundert mich kaum: Als "Deutscher Verräter" musste man sich vor dem russischen Regime hüten, als Gläubiger umso mehr. Nicht wenige haben aufgrund ihres Glaubens eingesessen, andere standen unter ständiger Beobachtung des KGB, auch Kinder in der Schule wurden durch Mitschüler beim Lehrer verpfiffen, wenn diese Glaubensversammlungen besuchten. Daher hat man sich ja nicht gewagt, noch aufmüpfig zu werden, es drohte Knast oder gar Tod (siehe z.B.
https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Reimer)
Diese Angst vor der Obrigkeit ist zwar gewichen, der Mut, sich gegen die Regierung zu stellen ist jedoch nicht vorhanden. Einen Streit vom Zaun zu brechen ist für sie auch nicht zielführend: Matthäus 5,9 "Selig sind, die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen." Also läßt man es einfach dabei und fügt sich zähneknirschend dem System.
Wie bereits oben erwähnt bin ich mir sicher, dass allein die Anzahl der in vielen Augen "konservativen" Aussiedler großes bewirken könnte. Dass es möglich ist, hat die Geschichte gezeigt. In nur wenigen Jahren haben Millionen "Heimkehrer" Russland verlassen, zurück blieben hochwertig errichtete Häuser, der Immobilienmarkt brach zusammen (die Häuser inkl. Ausstattung, Vieh, Autos wurden regelrecht verschenkt, da Bargeld nicht mitgenommen werden durfte). Die als fleißig und akurat angesehenen Facharbeiter waren plötzlich fort, die Städte und Dörfer zerfielen; und das nicht nur durch den Niedergang der UDSSR. (Leute, die nochmal da waren, berichten von grauenhaften Verhältnissen, die ehemals sauberen Häuser und Höfe sind mit Unkraut überwuchert und die Häuser marode)
Wie stände Deutschland morgen da, wenn "über Nacht" 8-10 Millionen Bürger mit überdurchschnittlich vielen Kindern das Land verlassen würden? Eine überalterte Bevölkerung würde zurückbleiben, die Arbeitslosenzahlen würden zwar etwas sinken, aber auch viele Fachkräfte, Meister, Techniker, Ingenieure, Professoren, Lehrer würden den ohnehin knappen Arbeitsmarkt aushöhlen. Das wäre fatal! Wie gesagt, so ist bereits einmal geschehen!
Ich bin im Endeffekt nicht der Meinung, dass man Aussiedler aus den "konservativen" Gemeinden besonders mobilisieren muss. Viele von den Nachkommen sind mittlerweile in der zweiten bis fünften Generation und bestens integriert, sodass diese sich auch mit politischen Themen auseinandersetzen und entsprechend agieren.
Dieser Text entstand nach bestem Wissen und Gewissen, um Vorurteile oder allgemeine Meinungen richtigzustellen. Sollte ich betroffene Personenkreise beleidigt oder diffarmiert haben, so tut es mir Leid und war nicht meine Absicht.BTW:
Könnte man nicht mal so ansetzen? Die Verweigerung der Zahlung der Rundfunkbeiträge aus religiösen Gründen wurde seitens des Gerichts verneint.
Wenn ich aber überlege, könnte es sich hier um die Diskreminierung einer ethnischen Minderheit handeln:
Die Kriterien der "Plattdeutschen" als ethnische Minderheit wahrzunehmen sind zumindest erfüllt
:
Eine ethnische Minderheit kann sich durch folgende Merkmale von weiteren Ethnien unterscheiden:
kulturelle Faktoren (Sprache, Religion, Geschichte, Brauchtum) -gegeben
räumliche Strukturen (Territorium) -gegeben
die soziale Identität (Zugehörigkeitsgefühl, Zusammengehörigkeitsgefühl) -gegeben
Verhalten der Bevölkerungsmehrheit gegenüber der Minderheit (Integration/Exklusion) -gegeben