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Autor Thema: EuGH C-704/20 - Kontrolle d. Rechtm. von Freiheitsentzug von Amts wegen  (Gelesen 319 mal)

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In der Rechtssache geht es zwar um Drittstaatsangehörige, etc., aber der Sachverhalt könnte für andere Bereiche entsprechend gedeutet werden?

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
8. November 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Inhaftnahme Drittstaatsangehöriger – Grundrecht auf Freiheit – Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 15 – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 9 – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 28 – Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Inhaftnahme und der Aufrechterhaltung der Haft – Prüfung von Amts wegen – Grundrecht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz – Art. 47 der Charta der Grundrechte“

In den verbundenen Rechtssachen C-704/20 und C-39/21

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=268046&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=251212

Zitat
85      Da der Unionsgesetzgeber ohne Ausnahme verlangt, dass eine Überprüfung der Erfüllung der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft „in angemessenen Zeitabständen“ stattfindet, ist die zuständige Behörde verpflichtet, die Überprüfung von Amts wegen vorzunehmen, selbst wenn die betroffene Person sie nicht beantragt hat.

Zitat
86      Wie sich aus allen diesen Vorschriften ergibt, hat sich der Unionsgesetzgeber nicht darauf beschränkt, gemeinsame materielle Normen festzulegen, sondern hat auch gemeinsame Verfahrensnormen eingeführt, die gewährleisten sollen, dass in jedem Mitgliedstaat eine Regelung besteht, die es der zuständigen Justizbehörde ermöglicht, die betroffene Person, gegebenenfalls nach einer Prüfung von Amts wegen, freizulassen, sobald sich erweist, dass ihre Inhaftierung nicht oder nicht mehr rechtmäßig ist.

Zitat
88      Wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, muss die zuständige Justizbehörde in Anbetracht der Bedeutung des Rechts auf Freiheit, der Schwere des Eingriffs in dieses Recht, den die Inhaftnahme von Personen aus anderen Gründen als der Verfolgung oder Ahndung von Straftaten darstellt, und des durch die vom Unionsgesetzgeber eingeführten gemeinsamen Normen hervorgehobenen Erfordernisses eines hohen gerichtlichen Schutzes, der es erlaubt, dem zwingenden Gebot nachzukommen, die betreffende Person freizulassen, wenn die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft nicht oder nicht mehr erfüllt sind, sämtliche ihr zur Kenntnis gebrachten, insbesondere tatsächlichen Umstände berücksichtigen, wie sie im Rahmen von Prozessmaßnahmen ergänzt oder aufgeklärt werden, die sie gemäß ihrem nationalen Recht für geboten hält, und anhand dieser Umstände gegebenenfalls den Verstoß gegen eine sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtmäßigkeitsvoraussetzung feststellen, auch wenn dieser Verstoß von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde. Diese Verpflichtung besteht unbeschadet der Verpflichtung der Justizbehörde, die eine solche Rechtmäßigkeitsvoraussetzung somit von Amts wegen zu prüfen hat, die Parteien gemäß dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens aufzufordern, sich zu dieser Voraussetzung zu äußern.

89      Insoweit kann insbesondere nicht zugelassen werden, dass in den Mitgliedstaaten, in denen Haftentscheidungen von einer Verwaltungsbehörde getroffen werden, die gerichtliche Kontrolle nicht umfasst, dass die Justizbehörde anhand der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Umstände überprüft, ob eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung erfüllt ist, deren Missachtung von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde, während in den Mitgliedstaaten, in denen Haftentscheidungen von einer Justizbehörde zu treffen sind, diese verpflichtet ist, von Amts wegen eine solche Überprüfung anhand dieser Umstände vorzunehmen.

90      Die in Rn. 88 des vorliegenden Urteils festgehaltene Auslegung stellt sicher, dass der gerichtliche Schutz des Grundrechts auf Freiheit in allen Mitgliedstaaten wirksam gewährleistet wird, gleich, ob sie eine Regelung vorsehen, nach der die Haftentscheidung von einer Verwaltungsbehörde getroffen wird und der gerichtlichen Kontrolle unterliegt, oder eine Regelung, nach der diese Entscheidung unmittelbar durch ein Gericht getroffen wird.

Zitat
92      Der vom Unionsgesetzgeber eingeführte strenge Rahmen für die Inhaftnahme und die Aufrechterhaltung der Haft führt nämlich zu einer Situation, die einem Verwaltungsrechtsstreit, in dem die Initiative und die Bestimmung des Streitgegenstands den Parteien zustehen, nicht in jeder Hinsicht gleicht.

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JEAN RICHARD DE LA TOUR
vom 21. Juni 2022(1)
Verbundene Rechtssachen C-704/20 und C-39/21

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=261301&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=257619

Zitat
86.      Was das in Art. 6 der Charta garantierte Recht auf Freiheit angeht, muss das Recht auf wirksamen gerichtlichen Schutz lückenlos gewährleistet sein und duldet keinen toten Winkel. Seine Tragweite hängt zwar vom jeweiligen konkreten Zusammenhang und den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Natur des betreffenden Rechtsakts, dem Kontext seines Erlasses sowie den Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet(40), doch bin ich der Ansicht, dass das Recht auf wirksamen gerichtlichen Schutz, wenn das Recht auf Freiheit betroffen ist, konsequent und strikt gewährleistet sein muss, indem eine hinsichtlich seines Umfangs und seiner Intensität umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahmen ermöglicht wird. Diese Gesichtspunkte sprechen meines Erachtens für einen besonderen, der Untersuchung möglicher Beeinträchtigungen des Rechts auf Freiheit angemessenen Ansatz bei der Problematik der Prüfung einer Verletzung von Unionsrecht von Amts wegen.

Zitat
90.      Zu beachten ist auch, dass die Beschränkung des Rahmens der Prüfung, die der Richter vorzunehmen hat, wenn er die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme oder der Aufrechterhaltung der Haft kontrolliert, eine Einschränkung des Rechts im Sinne von Art. 47 der Charta auf Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs bei einem Gericht darstellt, die nach Art. 52 Abs. 1 der Charta nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist, den Wesensgehalt dieses Rechts achtet und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspricht(48).

Zitat
92.      Dürfte nämlich ein Gericht nur über Gründe und Argumente befinden, die vor ihm geltend gemacht werden, ohne von Amts wegen andere Gesichtspunkte prüfen zu können, so kann dies dazu führen, dass eine Person in Haft genommen und weiter in Haft gehalten wird, obwohl die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt sind. Aus mehreren Bestimmungen des abgeleiteten Unionsrechts, mit denen das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf wirksamen gerichtlichen Schutz und der aus Art. 6 der Charta folgende Schutz dieser Person vor willkürlicher Inhaftierung konkretisiert werden, ergibt sich aber, dass die unverzügliche Freilassung zwingend ist, wenn die Haft nicht rechtmäßig oder nicht länger gerechtfertigt ist. [...] .

Zitat
97.      Zudem weise ich darauf hin, dass der Richter Hüter der persönlichen Freiheit ist(51). Folglich erscheint eine Regelung, nach der die zuständige Verwaltungsbehörde eine erschöpfende Prüfung der Voraussetzungen für die Inhaftierung vornehmen muss, während der Richter, der die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme zu überprüfen hat, nicht über eine so weitgehende Befugnis verfügt, unausgewogen und ist nicht geeignet, dem Drittstaatsangehörigen einen wirksamen gerichtlichen Schutz zu garantieren. Dem Richter und nicht dieser Verwaltungsbehörde steht das letzte Wort in der Frage zu, ob eine Maßnahme der Inhaftnahme oder der Aufrechterhaltung der Haft den gesetzlich vorgesehenen zwingenden Voraussetzungen genügt.


Fußnote des Schlußantrages:
Zitat
46      Vgl. u. a. Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn (C-519/20, EU:C:2022:178, Rn. 62). Im Urteil vom 15. Februar 2016, N. (C-601/15 PPU, EU:C:2016:84), hat sich der Gerichtshof auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 1 EMRK bezogen, wonach die Vereinbarkeit der Durchführung einer freiheitsentziehenden Maßnahme mit dem Ziel des Schutzes des Einzelnen vor Willkür u. a. voraussetzt, dass sie frei von Elementen von Bösgläubigkeit oder Täuschung seitens der Behörden ist, dass sie mit dem Ziel der nach dem einschlägigen Unterabsatz von Art. 5 Abs. 1 EMRK zulässigen Einschränkungen im Einklang steht und dass der angeführte Grund in angemessenem Verhältnis zu der fraglichen Freiheitsentziehung steht (Rn. 81 dieses Urteils mit Verweis auf EGMR, Urteil vom 29. Januar 2008, Saadi/Vereinigtes Königreich. CE:ECHR:2008:0129JUD001322903, §§ 68 bis74).

Um so größer die Verantwortung der Gerichte, deshalb hier ein Querverweis auf:

EGMR -> Voraussetzung der Erzwingungshaft
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=36571.0


Unterschriftenaktion: https://online-boykott.de/unterschriftenaktion
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