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Autor Thema: EuGH C-804/18 - Neutralitätspolitik vs. Diskriminierungsverbot  (Gelesen 613 mal)

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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
15. Juli 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Verbot von Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung – Interne Regel eines privaten Unternehmens, die das sichtbare Tragen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Zeichen oder das Tragen auffälliger großflächiger politischer, weltanschaulicher oder religiöser Zeichen am Arbeitsplatz verbietet – Unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung – Verhältnismäßigkeit – Abwägung zwischen der Religionsfreiheit und anderen Grundrechten – Rechtmäßigkeit der Neutralitätspolitik des Arbeitgebers – Erforderlichkeit des Nachweises eines wirtschaftlichen Nachteils für den Arbeitgeber“

In den verbundenen Rechtssachen C-804/18 und C-341/19

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=244180&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=4181248

Zitat
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.
      Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sind dahin auszulegen, dass eine interne Regel eines Unternehmens, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, gegenüber Arbeitnehmern, die aufgrund religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie darstellt, sofern diese Regel allgemein und unterschiedslos angewandt wird.

2.      Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität gegenüber seinen Kunden oder Nutzern zu verfolgen, sofern erstens diese Politik einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entspricht, das der Arbeitgeber unter Berücksichtigung insbesondere der berechtigten Erwartungen dieser Kunden oder Nutzer und der nachteiligen Konsequenzen, die der Arbeitgeber angesichts der Art seiner Tätigkeit oder des Umfelds, in dem sie ausgeübt wird, ohne eine solche Politik zu tragen hätte, nachzuweisen hat, zweitens die Ungleichbehandlung geeignet ist, die ordnungsgemäße Anwendung des Neutralitätsgebots zu gewährleisten, was voraussetzt, dass diese Politik konsequent und systematisch befolgt wird, und drittens das Verbot auf das beschränkt ist, was im Hinblick auf den tatsächlichen Umfang und die tatsächliche Schwere der nachteiligen Konsequenzen, denen der Arbeitgeber durch ein solches Verbot zu entgehen sucht, unbedingt erforderlich ist.

3.      Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die es verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen zu tragen, um eine Neutralitätspolitik in diesem Unternehmen sicherzustellen, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn dieses Verbot jede sichtbare Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen umfasst. Ein auf das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen beschränktes Verbot kann eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung darstellen, die jedenfalls auf der Grundlage dieser Vorschrift nicht gerechtfertigt sein kann.

4.      Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass nationale Vorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung angemessen ist, als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie berücksichtigt werden dürfen.

In dieser verbundenen Rechtssache, die Folge je einer Vorlage durch das Bundesarbeitsgericht und das Arbeitsgericht von Hamburg sind, wird herausgearbeitet, daß die Pflicht zur Gleichbehandlung auch Bereiche betrifft, die durch das Diskriminierungsverbot besonders geschützt sind.

Wenn sich der Arbeitgeber aus Gründen der Neutralität seinen Kunden gegenüber dazu entscheidet, bspw., religiöse Bekundungen seiner Arbeitnehmer*innen zu unterbinden, dann darf er dieses einerseits nur, wenn er keine religiöse Bekundung davon ausnimmt, und andererseits sich dabei auf Mitarbeiter*innen mit Kundenkontakt beschränkt.

Rn. 44
Zitat
Um diese Frage zu beantworten ist daran zu erinnern, dass nach Art. 1 der Richtlinie 2000/78 deren Zweck in der Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten besteht. Nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie „bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf“. Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie liegt eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von deren Art. 2 Abs. 1 vor, wenn eine Person wegen eines der in Art. 1 der Richtlinie genannten Gründe, zu denen die Religion oder die Weltanschauung gehören, in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.

Rn. 48
Zitat
Hinzuzufügen ist auch, dass das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit, das integraler Bestandteil des für die Auslegung der Richtlinie 2000/78 maßgeblichen Kontexts ist, dem in Art. 9 EMRK garantierten Recht entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat wie dieses (Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn. 27). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) stellt das in Art. 9 EMRK verankerte Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit „einen der Grundpfeiler einer ‚demokratischen Gesellschaft‘ im Sinne [dieser Konvention] dar und bildet „in seiner religiösen Dimension eines der lebenswichtigen Elemente, die die Identität der Gläubigen und ihre Lebensauffassung mitformen“, sowie „ein wertvolles Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige“, und trägt bei zum „Pluralismus, der – im Lauf der Jahrhunderte teuer erkämpft – für die demokratische Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung ist“ (EGMR, 15. Februar 2001, Dahlab/Schweiz, CE:ECHR:2001:0215DEC004239398).

Rn. 64
Zitat
Allerdings reicht der bloße Wille eines Arbeitgebers, eine Neutralitätspolitik zu betreiben, für sich genommen nicht aus, um eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung sachlich zu rechtfertigen, da eine sachliche Rechtfertigung nur bei Vorliegen eines wirklichen Bedürfnisses dieses Arbeitgebers festgestellt werden kann, das er nachzuweisen hat.

Rn. 77
Zitat
Insoweit ist klarzustellen, dass eine Politik der Neutralität im Unternehmen wie die in der ersten Frage in der Rechtssache C-341/19 angesprochene nur dann wirksam verfolgt werden kann, wenn überhaupt keine sichtbaren Bekundungen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen erlaubt sind, wenn die Arbeitnehmer mit Kunden oder untereinander in Kontakt stehen, da das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens die Eignung der Maßnahme zur Erreichung des angeblich verfolgten Ziels beeinträchtigt und damit die Kohärenz dieser Politik der Neutralität selbst in Frage stellt.

Rn. 84
Zitat
Schließlich ist festzustellen, dass diese Auslegung der Richtlinie 2000/78 mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Einklang steht, da sie es erlaubt, zu gewährleisten, dass dann, wenn mehrere in den Verträgen verankerte Grundrechte und Grundsätze in Rede stehen, wie beispielsweise im vorliegenden Fall zum einen der in Art. 21 der Charta verankerte Grundsatz der Nichtdiskriminierung und das in Art. 10 der Charta verankerte Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie zum anderen das in Art. 14 Abs. 3 der Charta anerkannte Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, und die in Art. 16 der Charta anerkannte unternehmerische Freiheit, bei der Beurteilung der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die mit dem Schutz der verschiedenen Rechte und Grundsätze verbundenen Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., C-336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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SCHLUSSANTRÄGE
DES GENERALANWALTS
ATHANASIOS RANTOS
vom 25. Februar 2021(1)
Verbundene Rechtssachen C-804/18 und C-341/19

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=238176&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=4181248

Zitat
72.      Zwar ersucht das vorlegende Gericht insoweit um die Auslegung der Richtlinie 2000/78 und nicht von Art. 10 der Charta(29); es erscheint mir jedoch wichtig, auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) einzugehen. In der Rechtssache C-341/19 handelt es sich um ein privates Unternehmen, das eine Drogeriekette betreibt. Nun gibt es ein Urteil des EGMR, das direkt auf die Frage des Tragens religiöser Kleidungsstücke in einem privaten Unternehmen eingeht, nämlich das Urteil Eweida u. a./Vereinigtes Königreich (30).

Zitat
74.      Im Licht dieses Urteils erscheint mir eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität eines Arbeitgebers in seiner Beziehung zu seinen Kunden nicht unvereinbar damit, dass seine Beschäftigten am Arbeitsplatz sichtbar oder nicht sichtbar Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen tragen, die klein, anders ausgedrückt unauffällig sind und nicht ins Auge springen. Gewiss können auch kleine Zeichen wie ein Pin oder ein Ohrring einem aufmerksamen und interessierten Beobachter einen Hinweis auf die politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen eines Arbeitnehmers geben. Solche diskreten, unauffälligen Zeichen können jedoch die Kunden des Unternehmens, die die Religion oder die Weltanschauung der betreffenden Arbeitnehmerin oder des betreffenden Arbeitnehmers nicht teilen, nicht stören.

Zitat
83.      Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 können die Mitgliedstaaten Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind. Ferner heißt es im 28. Erwägungsgrund, dass in dieser Richtlinie Mindestanforderungen festgelegt werden, dass es den Mitgliedstaaten somit freisteht, günstigere Vorschriften einzuführen oder beizubehalten, und dass die Umsetzung dieser Richtlinie nicht eine Absenkung des in den Mitgliedstaaten bereits bestehenden Schutzniveaus rechtfertigen darf.

Zitat
97.      Die Richtlinie 2000/78 konkretisiert Art. 21 der Charta, der sich in seiner Bindungswirkung grundsätzlich nicht von den verschiedenen Bestimmungen der Gründungsverträge unterscheidet, die verschiedene Formen der Diskriminierung auch dann verbieten, wenn sie aus Verträgen zwischen Privatpersonen resultieren(44). Diese Richtlinie hat somit lediglich die Bekämpfung der Diskriminierung u. a. wegen der Religion oder der Weltanschauung zum Gegenstand. Sie bezweckt nicht, den in Art. 10 der Charta vorgesehenen Schutz der Religionsfreiheit im eigentlichen Sinne sicherzustellen.

Zitat
107. Dazu weist das vorlegende Gericht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hin, wonach der Schutz eines Grundrechts wie des in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vorgesehenen auch auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen einwirkt. Die als Freiheitsrecht durch diese Vorschriften geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit trete gegenüber der in Art. 12 Abs. 1 GG genannten unternehmerischen Freiheit nur bei Vorliegen einer hinreichend konkreten Gefahr eines wirtschaftlichen Nachteils für den Unternehmer oder einen betroffenen Dritten zurück. Anders ausgedrückt ergibt sich, wie auch das vorlegende Gericht in der Rechtssache C-804/18 in seinem Beschluss und in der zweiten Frage Buchst. b zum Ausdruck gebracht hat, aus den deutschen Verfassungsvorschriften, dass der Wunsch eines Arbeitgebers, gegenüber seiner Kundschaft eine religiöse Neutralitätspolitik zu verfolgen, grundsätzlich nur dann rechtmäßig ist, wenn das Fehlen dieser Neutralität zu wirtschaftlichen Einbußen für ihn führt.

Fußnoten
Zitat
38      Es sei daran erinnert, dass ein Arbeitgeber keineswegs verpflichtet ist, seiner Kundschaft gegenüber eine Neutralitätspolitik zu betreiben. Es steht ihm nämlich frei, eine konfessionelle Zugehörigkeit kundzutun, die durch die von den Beschäftigten getragenen der betreffenden Religion eigenen religiösen Zeichen zum Ausdruck gebracht wird. Der Arbeitgeber kann sich ebenso gut dafür entscheiden, dem Tragen religiöser Zeichen, egal welcher Religion oder welcher Dimension, bei der Arbeit keine Grenze zu setzen.

Zitat
43      Die Kommission nennt, einen Gedanken ad absurdum führend, das Beispiel einer vollständigen Einschränkung jeder Ausübung der Glaubensüberzeugung durch einen Mitgliedstaat; diese würde zwar die Religionsfreiheit verletzen, aber nicht gegen das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion verstoßen, da alle Einwohner dieses Mitgliedstaats gleichbehandelt würden.


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