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Autor Thema: EuGH C-601/15 PPU - Zur Zulässigkeit einer Inhaftierung  (Gelesen 983 mal)

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Vorweg; Die ganzen "Erzwingungsinhaftierungen" könnten sowohl nach EMRK wie auch nach GrCh rechtswidrig sein; in Rn. 120 des Schlußantrages wird auf eine EGMR-Entscheidung Bezug genommen, in der dieser die Aussage tätigt, daß Haft nur aus Gründen des Strafrechts zulässig ist.

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
15. Februar 2016(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2008/115/EG – Legaler Aufenthalt – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 9 – Berechtigung zum Verbleib in einem Mitgliedstaat – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e – Haft – Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung – Gültigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6 und 52 – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C-601/15 PPU

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=174342&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=3121668

Rn. 45
Zitat
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die durch die EMRK anerkannten Grundrechte, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, zwar als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind und dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden, doch stellt die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteile Åkerberg Fransson, C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, und Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission, C-398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 45).

Rn. 47
Zitat
Insoweit ergibt sich aus den Erläuterungen zu Art. 6 der Charta, die nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei ihrer Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Åkerberg Fransson, C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 20, und Spasic, C-129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 54), dass die Rechte aus Art. 6 der Charta den durch Art. 5 EMRK garantierten Rechten entsprechen und dass die Einschränkungen, die legitim an der Ausübung der in Art. 6 der Charta verankerten Rechte vorgenommen werden können, nicht über die Einschränkungen hinausgehen dürfen, die nach der EMRK im Rahmen ihres Art. 5 zulässig sind. In den Erläuterungen zu Art. 52 der Charta heißt es jedoch, dass mit Abs. 3 dieses Artikels die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden soll, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird“.

Rn. 48
Zitat
Überdies ist nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ein Unionsrechtsakt so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht und insbesondere mit den Bestimmungen der Charta auszulegen (Urteile McDonagh, C-12/11, EU:C:2013:43, Rn. 44, und Überprüfung Kommission/Strack, C-579/12 RX-II, EU:C:2013:570, Rn. 40)

Rn. 50
Zitat
Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss aber jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und ihren Wesensgehalt achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte und Freiheiten nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

Rn. 54
Zitat
Zur Verhältnismäßigkeit des festgestellten Eingriffs ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei die durch sie verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile Afton Chemical, C-343/09, EU:C:2010:419, Rn. 45, Nelson u. a., C-581/10 und C-629/10, EU:C:2012:657 Rn. 71, und Sky Österreich, C-283/11, EU:C:2013:28, Rn. 50).

Rn. 56
Zitat
Zur Erforderlichkeit der den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung verliehenen Befugnis, einen Antragsteller aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung in Haft zu nehmen, ist hervorzuheben, dass angesichts der Bedeutung des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit und der Schwere des in einer solchen Inhaftnahme bestehenden Eingriffs in dieses Recht die Einschränkungen seiner Ausübung auf das absolut Notwendige beschränkt bleiben müssen (vgl. entsprechend, in Bezug auf das Recht auf Achtung des Privatlebens, Urteil Digital Rights Ireland u. a., C-293/12 und C-594/12, EU:C:2014:238, Rn. 52).

Rn. 65
Zitat
So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „öffentliche Ordnung“ jedenfalls voraussetzt, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteile Zh. und O., C-554/13, EU:C:2015:377, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung, zu Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115, sowie T., C-373/13, EU:C:2015:413, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung, zu den Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung [EWG] Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG [ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35]).

Rn. 66
Zitat
Zum Begriff „öffentliche Sicherheit“ geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (vgl. in diesem Sinne Urteil Tsakouridis, C-145/09, EU:C:2010:708, Rn. 43 und 44).

Rn. 69
Zitat
Eine solche Bestimmung kann nämlich Haftmaßnahmen nur dann tragen, wenn die zuständigen nationalen Behörden zuvor im konkreten Fall geprüft haben, ob die von den betreffenden Personen ausgehende Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung zumindest der Schwere des mit solchen Maßnahmen verbundenen Eingriffs in das Recht auf Freiheit dieser Personen entspricht.
Welche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit geht von einem Bürger aus, der von seinem Unionsgrundrecht aus Art 11 GrCh Gebrauch macht und keine Einflußnahme des Staates in sein Medienverhalten duldet, da dieses Unionsgrundrecht ihm genau das zugesteht?

Rn. 81
Zitat
Ferner ist hervorzuheben, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 5 Abs. 1 EMRK die Vereinbarkeit der Durchführung einer freiheitsentziehenden Maßnahme mit dem Ziel des Schutzes des Einzelnen vor Willkür u. a. voraussetzt, dass sie frei von Elementen bösen Glaubens oder der Täuschung seitens der Behörden ist, dass sie mit dem Ziel der nach dem einschlägigen Unterabsatz von Art. 5 Abs. 1 EMRK zulässigen Einschränkungen im Einklang steht und dass der angeführte Grund in angemessenem Verhältnis zu der fraglichen Freiheitsentziehung steht (vgl. in diesem Sinne EGMR, Saadi/Vereinigtes Königreich, Nr. 13229/03, §§ 68 bis 74, EGMR 2008). Wie aus den Ausführungen im Rahmen seiner Gültigkeitsprüfung im Hinblick auf Art. 52 Abs. 1 der Charta hervorgeht, genügt Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33, dessen Tragweite angesichts seines Kontextes eng begrenzt ist, aber diesen Erfordernissen.

Aus dem dazugehörigen Schlußantrag:

STELLUNGNAHME DER GENERALANWÄLTIN
ELEANOR SHARPSTON
vom 26. Januar 2016 1(1)
Rechtssache C-601/15 PPU

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Rn. 77
Zitat
Ich gelange nun zum Kern der Auslegung der streitigen Bestimmung: Was bedeutet der Satz „wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist“?

Rn. 78
Zitat
[...] Nach ständiger Rechtsprechung sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, jedoch entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen. Stehen diese Begriffe in einer Bestimmung, die eine Ausnahme von einem Grundsatz darstellt, so sind sie außerdem eng auszulegen(52).

Rn. 81
Zitat
Aus meiner vorstehenden Darstellung der streitigen Bestimmung(55) ergibt sich jedoch, dass diese die Rechtfertigung einer Ausnahme ist, mit der die Mitgliedstaaten von einer Verpflichtung abweichen können, die geschaffen wurde, um die Achtung der Grundrechte von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, bei ihrer Aufnahme in der Union sicherzustellen. Die Anforderungen im Zusammenhang mit dem Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung sind daher eng zu verstehen, und ihre Tragweite kann nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Union, insbesondere den Gerichtshof, bestimmt werden(56).
Hätte das Gericht im Fall Borken die Vorlage an den EuGH durchführen müssen? Immerhin ist nicht nur ein Unionsgrundrecht berührt.

Rn. 83
Zitat
Ich weise schließlich darauf hin, dass ein Unionsrechtsakt nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht und insbesondere den Bestimmungen der Charta auszulegen ist(57). Die Mitgliedstaaten sind daher nicht nur verpflichtet, ihr in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallendes nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern auch, darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert(58).
Eine Anwendung des nationalen Rechts, die mit einem Unionsrecht kolidiert, ist unionsrechtswidrig.

Rn. 97
Zitat
Auch der Umstand, dass ein Antragsteller verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht strafbare Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat bereits strafrechtlich verurteilt wurde, kann für sich genommen nicht rechtfertigen, dass er in Haft genommen wird, weil dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist(73). Aufgrund des präventiven Charakters einer nach der streitigen Bestimmung angeordneten Haft kann diese an sich nämlich nicht die Bestrafung eines vergangenen Verhaltens des Antragstellers zum Gegenstand haben. Eine andere Schlussfolgerung würde im Hinblick auf den Grundsatz ne bis in idem im Übrigen zu Schwierigkeiten führen, da sie eine Situation ermöglichen würde, in der eine Person, nachdem sie wegen einer oder mehrerer Straftaten verurteilt worden ist und die entsprechenden Strafen verbüßt hat, durch eine Inhaftnahme nach der streitigen Bestimmung wegen ebendieser Taten nochmals „bestraft“ werden könnte.

Rn. 116
Zitat
Um im Einklang mit Art. 6 der Charta zu stehen, muss eine nach der streitigen Bestimmung angeordnete Haftmaßnahme gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des Rechts auf Freiheit und Sicherheit achten und sich – unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – als notwendig erweisen und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Wie ich in Nr. 60 der vorliegenden Stellungnahme dargelegt habe, setzt dies eine Prüfung der Frage voraus, ob eine solche Haftmaßnahme zum einen unter eine der in Art. 5 Abs. 1 EMRK genannten Ausnahmen fällt und zum anderen alle übrigen von den Abs. 2 bis 5 dieses Artikels gebotenen Garantien beachtet. Ich werde nunmehr ausführlicher auf diese Anforderungen eingehen. Die nachstehenden Ausführungen dienen nicht der Darstellung der gesamten einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Eingriffen in das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das durch Art. 5 EMRK – und damit durch Art. 6 der Charta – garantiert ist. Sie beschränken sich auf das, was im Hinblick auf die Beantwortung der dem Gerichtshof vorgelegten Gültigkeitsfrage notwendig erscheint.

Rn. 117
Zitat
Aus einer ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die für die Auslegung von Art. 6 der Charta in vollem Umfang relevant ist, geht hervor, dass die Buchst. a bis f von Art. 5 Abs. 1 EMRK eine erschöpfende Liste der Gründe enthalten, die eine Inhaftierung ermöglichen, so dass eine solche Maßnahme nicht rechtmäßig ist, wenn sie nicht unter einen dieser Gründe fällt(90). Diese Gründe sind eng auszulegen, da sie Ausnahmen vom Recht auf Freiheit und Sicherheit darstellen(91).

Rn. 120
Zitat
Die erste von ihnen ist die Ausnahme in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK, der sich im Wesentlichen auf die Untersuchungshaft bezieht(94). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass sich der Haftgrund der Notwendigkeit, eine Person an der Begehung einer Straftat zu hindern, nicht für eine allgemeine Präventionspolitik gegen eine Person oder Personengruppe eigne, die sich aufgrund ihrer anhaltenden Neigung zur Begehung von Straftaten als gefährlich erwiesen. Dieser Grund beschränke sich darauf, den Vertragsstaaten die Wahl des Mittels zur Verhinderung einer konkreten und bestimmten Straftat zu überlassen(95). Er erlaube lediglich eine Haft, die im Rahmen eines Strafverfahrens angeordnet werde(96). Dies gehe aus seinem Wortlaut hervor, der in Verbindung mit Buchst. a desselben Absatzes von Art. 5 einerseits und Abs. 3 dieses Artikels andererseits zu sehen sei, mit dem er ein Ganzes bilde und in dem es u. a. heiße, dass eine solche Ausnahme vom Recht auf Freiheit und Sicherheit voraussetze, dass die betreffende Person unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werde und dass sie Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Zeit oder auf Entlassung während des Verfahrens habe(97). Werde einer Person die Freiheit entzogen, um sie an der Begehung einer Straftat zu hindern, könne ein solches Verfahren die strafrechtliche Verurteilung dieser Person wegen Handlungen zur Vorbereitung der genannten Straftat zum Gegenstand haben(98). Das Erfordernis eines Strafverfahrens bedeutet jedoch keineswegs, dass Festnahme und Inhaftierung nicht von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden können (wie in dem Beispiel, das ich in Nr. 87 der vorliegenden Stellungnahme angeführt habe), da der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden hat, dass mit Art. 5 Abs. 3 EMRK gerade eine rasche und automatische richterliche Kontrolle einer freiheitsentziehenden Maßnahme sichergestellt werden solle, die von der Polizei oder der Verwaltung nach Abs. 1 Buchst. c dieses Artikels angeordnet worden sei

Rn. 125
Zitat
Der Rat und die Kommission tragen weiter vor, es lasse sich nicht ausschließen, dass eine Haftmaßnahme nach der streitigen Bestimmung unter die Ausnahme in Art. 5 Abs. 1 Buchst. e EMRK falle, der u. a. die Möglichkeit vorsehe, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtige und Landstreicher in Haft zu nehmen(109). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Zusammenhang zwar entschieden, dass solchen Personen auf dieser Grundlage u. a. deshalb die Freiheit entzogen werden könne, weil sie als für die öffentliche Sicherheit gefährlich zu betrachten seien(110). Ich erinnere jedoch an die begrenzte Tragweite der streitigen Bestimmung, auf die ich in den Nrn. 77 bis 115 der vorliegenden Stellungnahme hingewiesen habe; die Durchführung dieser Bestimmung setzt insbesondere voraus, dass sich mit tatsächlichen oder rechtlichen Kriterien zur Situation des Antragstellers feststellen lässt, dass sein persönliches Verhalten die Haft rechtfertigt, weil er eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt. In diesem Kontext habe ich große Vorbehalte hinsichtlich der Möglichkeit, eine nach der streitigen Bestimmung angeordnete Haftmaßnahme auf der Grundlage der genannten Ausnahme zu rechtfertigen.

Rn. 126
Zitat
Art. 6 der Charta, ausgelegt im Licht von Art. 5 EMRK, stellt eine Reihe zusätzlicher Garantien sowohl inhaltlicher als auch verfahrensrechtlicher Natur bereit(111).

Rn. 127
Zitat
Erstens muss jeder Eingriff in das Recht auf Freiheit und Sicherheit rechtmäßig sein. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bedeutet dieses Erfordernis in erster Linie, dass die Haft die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen materiellen und verfahrensrechtlichen Normen einhalten muss(112). Es findet sich in Art. 52 Abs. 1 der Charta bestätigt, wonach jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein muss. In einem Haftfall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bezieht sich dieses Erfordernis auf die Einhaltung sämtlicher einschlägiger Bestimmungen der Aufnahmerichtlinie und des anwendbaren nationalen Rechts.

Rn. 128
Zitat
Art. 5 Abs. 1 EMRK verlangt außerdem, dass jede Haft dem Ziel entspricht, das darin besteht, den Einzelnen gegen Willkür zu schützen, da eine nach den nationalen Rechtsvorschriften rechtmäßige Freiheitsentziehung gleichwohl willkürlich sein und daher gegen die EMRK verstoßen kann(113). Diese Voraussetzung beinhaltet u. a., dass die Behörden bei der Durchführung der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht bösgläubig oder in Täuschungsabsicht handeln dürfen, dass sich diese Maßnahme mit dem Zweck der nach dem einschlägigen Unterabsatz von Art. 5 Abs. 1 EMRK zulässigen Einschränkungen deckt, dass zwischen dem Grund, der angeführt worden ist, um die zulässige Haft zu rechtfertigen, sowie dem Ort und den Bedingungen der Haft eine Verbindung besteht und dass der angeführte Haftgrund und die fragliche Haft in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen(114). Die Haft ist eine so schwerwiegende Maßnahme, dass sie nur als letztes Mittel gerechtfertigt ist, wenn andere weniger einschneidende Maßnahmen in Betracht gezogen und für unzureichend befunden worden sind, um das persönliche oder öffentliche Interesse an der Haft zu wahren(115).

Rn. 130
Zitat
Zweitens setzt die Durchführung der streitigen Bestimmung voraus, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit beachtet wird. Es ist daher wesentlich, dass die Haftbedingungen klar definiert sind und das Gesetz selbst in seiner Anwendung so vorhersehbar ist, dass das Rechtsmäßigkeitskriterium erfüllt wird, wonach jedes Gesetz hinreichend genau sein muss, um es dem Bürger – bei Bedarf mit fachkundiger Beratung – zu ermöglichen, in einem unter den Umständen des Falls angemessenen Ausmaß die Folgen vorherzusehen, die sich aus einem bestimmten Rechtsakt ergeben können(120).

Rn. 135
Zitat
Ganz allgemein hat jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen wird, das Recht, zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Zeit über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist(125). Art. 5 Abs. 4 EMRK – und damit Art. 6 der Charta – erfordert eine Kontrolle, die weitgehend genug ist, um sich auf jede einzelne der Voraussetzungen zu erstrecken, die für die Ordnungsmäßigkeit der Haft einer Einzelperson im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 EMRK unerlässlich sind(126). [...]

Rn. 136
Zitat
Fünftens schließlich sieht Art. 5 Abs. 5 EMRK vor, dass jede Person, der unter Verletzung sämtlicher sich aus den ersten vier Absätzen dieses Artikels ergebender Regeln die Freiheit entzogen wird, Anspruch auf Schadensersatz hat. In Anbetracht der Erläuterungen zu Art. 6 der Charta gilt dies zwangsläufig auch für die letztgenannte Bestimmung. [...] Gleichwohl ist die normative Besonderheit eines solchen Unionsrechtsakts zu berücksichtigen, der, wie sich aus Art. 288 Abs. 3 AEUV ergibt, einerseits für jeden Mitgliedstaat, an den er gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, andererseits aber den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überlässt. [...]

Die in Rn. 120 Fußnote 96 enthält folgenden Eintrag:

Zitat
96 – Vgl. u. a. EGMR, Ciulla/Italien, 22. Februar 1989, § 38, Serie A Nr. 148, und Ostendorf/Deutschland, Nr. 15598/08, §§ 68 und 85, 7. März 2013.
Wenn bereits in der Deutschland betreffenden Ostendorf-Entscheidung des EGMR entschieden worden ist, daß Haft überhaupt nur in Belangen des Strafrechts zulässig ist, ist der Justizskandal noch viel größer, als bislang bekannt, bzw. vermutet, wäre doch seither keine Inhaftierung aus nicht-strafrechtlichen Belangen rechtmäßig gewesen.


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  • IP logged  »Letzte Änderung: 17. Mai 2021, 20:14 von Bürger«
Bei Verarbeitung pers.-bez.-Daten ist das Unionsgrundrecht unmittelbar bindend; (BVerfG 1 BvR 276/17 & BVerfG 1 BvR 16/13)

Keine Unterstützung für
- Amtsträger, die sich über europäische wie nationale Grundrechte hinwegsetzen oder dieses in ihrem Verantwortungsbereich bei ihren Mitarbeitern, (m/w/d), dulden;

- Parteien, der Mitglieder sich als Amtsträger über Grundrechte hinwegsetzen und wo die Partei dieses duldet;

- Gegner des Landes Brandenburg wie auch gesamt Europas;

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Es ist sicher ein wichtiger Aspekt, die Frage der Erzwingungshaft auch unter dem Gesichtspunkt der EMRK und der Rechtsauslegung von EuGH und EGMR zu betrachten.

Im konkreten Anwendungsfall, nämlich der Erzwingungshaft zur Abgabe der Vermögensauskunft, habe ich aber deutliche Zweifel, ob dieses Eis nicht zu dünn ist, um zu tragen.

Ich verweise auf den Wortlaut des Art. 5 EMRK
https://dejure.org/gesetze/MRK/5.html

Zitat
Art. 5
Recht auf Freiheit und Sicherheit

(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. 2Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

   a)    rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;

   b)    rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßiger Freiheitsentziehung wegen Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;

   c)    rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßiger Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, daß die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlaß zu der Annahme besteht, daß es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;

   d)    rechtmäßige Freiheitsentziehung bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde;

   e)    rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;

   f)    rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.

(2) Jeder festgenommenen Person muß unverzüglich in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden.

(3) Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, muß unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden; sie hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. 2Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden.

(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, daß ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.

(5) Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.

Es wäre also vorrangig zu klären, ob die Verpflichtung zur Abgabe der Vermögensauskunft eine gesetzliche ist, d. h. ob ein Schuldner von Gesetzes wegen verpflichtet ist, die Vermögensauskunft abzugeben. Sofern dies nämlich bejaht werden muß, wäre die Erzwingungshaft mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. b EMRK vereinbar.

Hier ist im Fall der Verwaltungsvollstreckung in NRW zu klären, ob § 284 AO *) den Schuldner durch Gesetz zur Abgabe der Vermögensauskunft verpflichtet. Dies bedarf umfassender Recherche der Kommentarliteratur und der Rechtsprechung. Bis dahin sehe ich einen Angriff über Art. 5 EMRK als wenig erfolgversprechend an.

*) nach § 5a VwVG NRW richtet sich das Verfahren zur Abgabe der Vermögensauskunft nach § 284 AO. Für die anderen Bundesländer wäre zunächst die (mir unbekannte) zur Anwendung kommende Gesetzeslage zu bestimmen, daher ist meine Aussage auf die Lage in NRW beschränkt.


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  • IP logged  »Letzte Änderung: 17. Mai 2021, 20:11 von Bürger«
Ich bin ein unangenehmer Bürger — ich erlaube mir nämlich, selbst zu denken

  • Beiträge: 7.302
@querkopf

Bitte beachte Rn. 120 des zitierten Schlußantrages.

Wenn, wie seitens der EuGH-Generalanwältin so geschildert, der EGMR in einer Deutschland betreffenden Entscheidung entschieden hat, daß eine Inhaftierung nur im Strafrecht zulässig ist, dann kann zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung auch nur eine Regel des Strafrechts berührt sein und sonst nichts.

Aus Rn. 70 der EGMR-Entscheidung separat herauszitiert, weil wesentlich.

Zitat
[...] Diese Bestimmung rechtfertigt daher beispielsweise nicht die administrative Freiheitsentziehung, mit der eine Person gezwungen werden soll, ihre allgemeine Verpflichtung zur Befolgung der Gesetze zu erfüllen [...]
Die bloße Nichtbefolgung von Gesetzen darf nicht mit Haft geahndet werden; die Verwaltung, also Administration, darf Haft nicht anordnen und das Gericht darf dieses nur in Belangen des Strafrechts.

Obiges ist die einzige Schlußfolgerung der EGMR-Aussagen zu Art 5 Absatz 1 Buchstaben b und c EMRK; die anderen Buchstaben sind nicht einschlägig.

RECHTSSACHE O. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 15598/08)
http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-122621

Zitat
69. Darüber hinaus ist die Freiheitsentziehung nach der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b zulässig zur „Erzwingung der Erfüllung“ einer gesetzlichen Verpflichtung. Diese Bestimmung erfasst die Fälle, in denen es gesetzlich zulässig ist, einer Person die Freiheit zu entziehen, um sie dazu zu zwingen, eine ihr obliegende spezifische und konkrete Verpflichtung zu erfüllen, der sie bisher noch nicht nachgekommen ist (siehe u. a. Engel u. a., a. a. O., Rdnr. 69; Guzzardi, a. a. O., Rdnr. 101; Ciulla, a. a. O., Rdnr. 36; E., a. a. O., Rdnr. 37; A. D. ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 29986/96, Rdnr. 20, 22. Dezember 2005; und Lolova-Karadzhova ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 17835/07, Rdnr. 29, 27. März 2012).

70. Eine weite Auslegung von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b würde zu Ergebnissen führen, die mit dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit, unter dem die gesamte Konvention steht, unvereinbar sind (siehe Engel u. a., a. a. O., Rdnr. 69; und Iliya Stefanov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 5755/01, Rdnr. 72, 22. Mai 2008). Diese Bestimmung rechtfertigt daher beispielsweise nicht die administrative Freiheitsentziehung, mit der eine Person gezwungen werden soll, ihre allgemeine Verpflichtung zur Befolgung der Gesetze zu erfüllen (siehe Engel u. a., a. a. O., Rdnr. 69; und S. und M., a. a. O., Rdnr. 73). Die Verpflichtung, in unmittelbarer Zukunft keine Straftat zu begehen, kann gleichermaßen nicht als hinreichend konkret und spezifisch angesehen werden, um unter Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b zu fallen, zumindest nicht, solange keine Anordnung spezifischer Maßnahmen erging und dieser nicht Folge geleistet wurde (siehe S. und M., a. a. O., Rdnr. 82).

71. Um unter Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b zu fallen, müssen die Festnahme und die Freiheitsentziehung darüber hinaus zum Ziel haben beziehungsweise unmittelbar dazu beitragen, die Erfüllung der Verpflichtung zu erzwingen, und dürfen keinen Strafcharakter aufweisen (siehe bereits Johansen ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 10600/83, Kommissionsentscheidung vom 14. Oktober 1985, Entscheidungen und Berichte (Decisions and Reports – DR) 44, S. 162; Vasileva ./. Dänemark, Individualbeschwerde Nr. 52792/99, Rdnr. 36, 25. September 2003; Gatt ./. Malta, Individualbeschwerde Nr. 28221/08, Rdnr. 46, ECHR 2010; Osypenko ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 4634/04, Rdnr. 57, 9. November 2010; und Soare u. a. ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 24329/02, Rdnr. 236, 22. Februar 2011). Könnte Buchst. b so ausgeweitet werden, dass er auch für Strafen gilt, würden diesen Strafen die elementaren Garantien aus Buchst. a fehlen (siehe Engel u. a., a. a. O., Rdnr. 69; und Johansen, a. a. O., S. 162).

72. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass die Verpflichtung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b, deren Erfüllung angestrebt wird, ihrer Art nach mit der Konvention vereinbar ist (siehe bereits McVeigh, O’Neill und Evans ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerden Nrn. 8022/77, 8025/77 und 8027/77, Kommissionsbericht vom 18. März 1981, DR 25, S. 15, Rdnr. 176; und Johansen, a. a. O., S. 162). Sobald die entsprechende Verpflichtung erfüllt wurde, entfällt die Grundlage für die Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b (siehe Vasileva, a. a. O., Rdnr. 36; E., a. a. O., Rdnr. 37; Osypenko, a. a. O., Rdnr. 57; Sarigiannis ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 14569/05, Rdnr. 43, 5. April 2011; und Lolova-Karadzhova, a. a. O., Rdnr. 29).

Die in Rnn. 70 und 72 in Rot hervorgehobenen Aussagen kollidieren mit Art 10 EMRK, da eine staatliche Einflußnahme im Bereich der Meinungs- und Informationsfreiheit nicht zulässig ist.

Ab Rn. 90 führt  der EGMR Gründe für die Rechtfertigung der Inhaftierung nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe b EMRK aus; auch hier aber ist aus den weiteren Ausführungen ersichtlich, daß der Bereich des Strafrechts offenbar konkret berührt sein muß.

Interessanter dazu ist aber die Ausführung zu Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe c EMRK, wie sie ab Rn. 77 vorgenommen wird.

Zitat
85. Diese Auslegung ließe sich jedoch weder mit dem vollständigen Wortlaut von Artikel 5 Abs. 1 Buchst c, noch mit dem von Artikel 5 insgesamt errichteten Schutzsystem in Einklang bringen. Laut Artikel 5 Abs. 1 Buchst. c muss die Freiheitsentziehung des Betroffenen „zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde“ erfolgen und nach Artikel 5 Abs. 3 hat dieser „Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist“. Wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung vielfach bestätigt hat, erfasst die zweite Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. c folglich nur die Freiheitsentziehung in Verbindung mit einem Strafverfahren. Insbesondere bezieht sich der Begriff „Urteil“ (Englisch: „trial“), anders als von der Regierung vorgetragen, nicht auf eine richterliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Präventivgewahrsams. Diese ist Gegenstand von Artikel 5 Abs. 4.

Zitat
90.  Der Gerichtshof hat daher zu prüfen, ob der Gewahrsam des Beschwerdeführers, wie von der Regierung ebenfalls vorgebracht, nach der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b „zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung“ gerechtfertigt war. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe Rdnr. 69) ist die Voraussetzung dafür, dass eine Freiheitsentziehung unter diesen zulässigen Grund fällt, zunächst einmal, dass es gesetzlich zulässig ist, dem Betroffenen die Freiheit zu entziehen, um ihn dazu zu zwingen, eine ihm obliegende spezifische und konkrete Verpflichtung zu erfüllen, der er bis dahin nicht nachgekommen ist.

Zitat
93.  Nach Ansicht des Gerichtshofs zeigen diese Beispiele, dass die „Verpflichtung“ nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b sehr eng eingegrenzt sein muss. Daraus folgt, dass die hier in Rede stehende Verpflichtung, friedlich zu bleiben und eine Straftat nicht zu begehen, nur dann „als spezifisch und konkret“ im Sinne dieser Konventionsbestimmung angesehen werden kann, wenn Ort und Zeitpunkt der bevorstehenden Begehung der Straftat sowie ihr potenzielles Opfer/ihre potenziellen Opfer hinreichend konkretisiert wurden. Nach der Überzeugung des Gerichtshofs war das hier gegeben. Der Beschwerdeführer sollte daran gehindert werden, in der Zeit vor, während oder nach dem Fußballspiel vom 10. April 2004 in oder in der Nähe von Frankfurt eine Schlägerei von B. und Frankfurter Hooligans zu verabreden und bei einer solchen Auseinandersetzung Straftaten wie Körperverletzung und Landfriedensbruch zu begehen.

Edit:

Diese EGMR-Entscheidung ist auch dem BVerfG hinreichend bekannt.

BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. April 2016
- 2 BvR 1833/12 -, Rn. 1-39,

http://www.bverfg.de/e/rk20160418_2bvr183312.html

Rn. 33
Zitat
Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 b), 2. Fall EMRK ist die Freiheitsentziehung zulässig zur „Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung“. Die Bestimmung erfasst die Fälle, in denen es gesetzlich zulässig ist, einer Person die Freiheit zu entziehen, um sie dazu zu zwingen, eine ihr obliegende spezifische und konkrete Verpflichtung zu erfüllen, der sie bisher nicht nachgekommen ist (vgl. EGMR, Engel v. Niederlande, Entscheidung vom 8. Juni 1976, Nr. 5100/71, § 69; Guzzardi v. Italien, Entscheidung vom 6. November 1980, Nr. 7367/76, § 101; Ciulla v. Italien, Entscheidung vom 22. Februar 1989, Nr. 11152/84, § 36; Epple v. Deutschland, Entscheidung vom 24. März 2005, Nr. 77909/01, § 37; Schwabe u.a. v. Deutschland, Entscheidung vom 1. Dezember 2011, Nr. 8080/08, 8577/08, § 73; Ostendorf v. Deutschland, Entscheidung vom 7. März 2013, Nr. 15598/08, § 69). Nicht ausreichend ist die allgemeine Verpflichtung, sich an Gesetze zu halten (vgl. EGMR, Engel u.a. v. Niederlande, Entscheidung vom 8. Juni 1976, Nr. 5100/71, Nr. 5101/71, Nr. 5102/71, Nr. 5354/72, Nr. 5370/72, § 69; Schwabe u.a. v. Deutschland, Entscheidung vom 1. Dezember 2011, Nr. 8080/08, 8577/08, § 73). Geht es um die Verpflichtung, keine Straftat zu begehen, muss diese Straftat - dem Zweck des Art. 5 Abs. 1 EMRK, den Einzelnen vor willkürlicher Freiheitsentziehung zu schützen, entsprechend - bereits hinreichend bestimmt sein und der Betroffene muss sich unwillig gezeigt haben, sie zu unterlassen (vgl. EGMR, Schwabe u.a. v. Deutschland, Entscheidung vom 1. Dezember 2011, Nr. 8080/08, 8577/08, § 82; Ostendorf v. Deutschland, Entscheidung vom 7. März 2013, Nr. 15598/08, § 94). Nach der Entscheidung Ostendorf v. Deutschland ist diesen Anforderungen genügt, wenn Ort und Zeit der bevorstehenden Tatbegehung sowie das potentielle Opfer hinreichend konkretisiert sind und der Betroffene, nachdem er auf die konkret zu unterlassende Handlung hingewiesen worden ist, eindeutige und aktive Schritte unternommen hat, die darauf hindeuten, dass er der konkretisierten Verpflichtung nicht nachkommen wird (vgl. EGMR, Ostendorf v. Deutschland, Entscheidung vom 7. März 2013, Nr. 15598/08, § 93 f.).

Die Aussagen des BVerfG in Belangen des Falles Borken sind ob der Aussagen des EGMR, die vom BVerfG ja selber teilweise zitiert werden, nicht nachvollziehbar.

Übrigens:

Rn. 34
Zitat
cc) Ungeachtet des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts ist die Auslegung von Inhalt und Reichweite eines freiheitsbeschränkenden Gesetzes und seiner Formvorschriften in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht kann erst korrigierend eingreifen, wenn das fachgerichtliche Auslegungsergebnis über die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen hinausgreift, insbesondere wenn es mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf persönliche Freiheit nicht zu vereinbaren ist (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>; 96, 68 <97>; 105, 239 <247>). Auslegung und Anwendung des § 18 Abs. 1 Nr. 2 a) NdsSOG durch das Landgericht lassen - auch unter Berücksichtigung der Wertungen aus Art. 5 Abs. 1 EMRK - nicht auf die Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und 2 GG schließen
Welches Fachgericht hat im Falle Borken tatsächlich abschließend darüber befunden?


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Hier folgende Erstmeinungen:
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In der Rechtssache C-601/15 PPU  - erster Beitrag im Thread - ist in RN 81 der Grundsatz der Verhätlnismäßigkeit klargestellt.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist im deutschen Recht nicht ausreichend implementiert: Die Beugehaft ist bis zu 6 Monate für 50 Euro oder für 50 Millionen Euro.
Die rund 35 000 Euro Haftkosten gehen überwiegend zu Lasten des Steuerzahlers. Bei 50 Millionen Euro entspricht das einem öffentlichen Interesse, bei 50 Euro sicherlich nicht.

Wenn Rechtslücke ist, so hat Richterrecht diese zu schließen. Wegen der extremen Unverhältnismäßigkeit hätte das BVerfG hier eigentlich ohne Abwarten der Rechtswegerschöpfung die Beschwerde vom Vollentscheid annehmen können und im Eilverfahren für Georg die sofortige Freilassung anweisen können.

Das BVerfG ist überlastet. Das Landesverfassungsgericht hätte im Fall der Anruf, weil Bundesrecht, nur im Eilverfahren die Freilassung verfügen können mit anschließender Richtervorlage.

Mit diesen Erstmeinungen geht dies ein in Schriftsatzverlagen.
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Keine Einfügen in kommende Beschwerden, weil nur ein Betroffener die Aktivlegitimation dafür haben würde.


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