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Autor Thema: EuGH C-857/19 - Tragweite des Grundsatzes "ne bis in idem" im Wettbewerb  (Gelesen 595 mal)

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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
25. Februar 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Art. 102 AEUV – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Art. 11 Abs. 6 – Entfallen der Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden – Grundsatz ne bis in idem – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50“

In der Rechtssache C-857/19

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=238166&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=12903847

Zitat
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 11 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den [Art. 101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln ist dahin auszulegen, dass die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV entfällt, wenn die Kommission ein Verfahren einleitet, um eine Entscheidung zu erlassen, mit der eine Zuwiderhandlung gegen diese Bestimmungen festgestellt wird, soweit dieser formelle Rechtsakt dieselben von dem- oder denselben Unternehmen auf dem- oder denselben Produktmärkten und dem- oder denselben geografischen Märkten in dem- oder denselben Zeiträumen begangenen mutmaßlichen Zuwiderhandlungen gegen die Art. 101 und 102 AEUV betrifft wie diejenigen, die von dem oder den Verfahren, die zuvor von den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten eingeleitet worden sind, erfasst sind.

2.      Der Grundsatz ne bis in idem, wie er in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist, ist dahin auszulegen, dass er auf wettbewerbsrechtliche Zuwiderhandlungen wie den Missbrauch einer beherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV anwendbar ist und es verbietet, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es mit einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird. Dieser Grundsatz gilt hingegen nicht, wenn ein Unternehmen wegen Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV, die unterschiedliche Produktmärkte oder geografische Märkte betreffen, selbständig und unabhängig von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats und der Europäischen Kommission verfolgt oder mit Sanktionen belegt wird oder wenn die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats nach Art. 11 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 ihre Zuständigkeit verliert.

Rn. 40
Zitat
Insoweit ist darauf hinzuweisen, es sich bei dem Grundsatz ne bis in idem um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts handelt (Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 59). Dieser Grundsatz ist für Verfolgungen und Sanktionen strafrechtlicher Art auch in Art. 50 der Charta niedergelegt.

Rn. 41
Zitat
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Grundsatz ne bis in idem in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten. Dieser Grundsatz verbietet somit, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird (Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C-17/10, EU:C:2012:72, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Rn. 42
Zitat
Daraus folgt, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen von wettbewerbsrechtlichen Verfahren einer zweifachen Voraussetzung unterliegt, nämlich zum einen der, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen der, dass dasselbe wettbewerbswidrige Verhalten von der früheren Entscheidung und von den späteren Verfolgungen oder Entscheidungen erfasst wird (Voraussetzung „idem“).

Rn. 43
Zitat
Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, hängt die Erfüllung der Voraussetzung „idem“ ihrerseits von einer dreifachen untergeordneten Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts ab (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C-17/10, EU:C:2012:72, Rn. 97). Der Grundsatz ne bis in idem verbietet es somit, dieselbe Person mehr als einmal wegen desselben rechtswidrigen Verhaltens zum Schutz desselben Rechtsguts mit einer Sanktion zu belegen (Urteil des Gerichtshofs vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 338).

Rn. 45
Zitat
[...] findet der Grundsatz ne bis in idem nämlich keine Anwendung, weil die untergeordnete Voraussetzung der Identität des Sachverhalts nicht erfüllt ist und es mithin an der Voraussetzung „idem“ fehlt.


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