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Autor Thema: EuGH C-20/01 - Unbegrenzte Vertragsverletzungsklagebefugnis der EU-Kommission  (Gelesen 787 mal)

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Vorabhinweis:
Aus der in Rn. 58 der Entscheidung genannten weiteren Rechtssache C-318/94 geht hervor, daß der thematisierte Sachverhalt auch auf öffentliche Bauaufträge anzuwenden ist.

URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
10. April 2003(1)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Zulässigkeit - Rechtsschutzinteresse - Richtlinie 92/50/EWG - Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge - Verhandlungsverfahren ohne vorherige Vergabebekanntmachung - Voraussetzungen“

In den verbundenen Rechtssachen C-20/01 und C-28/01

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=48202&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=1933952

Rn. 29
Zitat
Nach ständiger Rechtsprechung braucht die Kommission bei der Wahrnehmung der ihr in Artikel 226 EG eingeräumten Zuständigkeiten kein spezifisches Rechtsschutzinteresse nachzuweisen. Diese Bestimmung soll nämlich nicht die eigenen Rechte der Kommission schützen. Dieser fällt kraft ihres Amtes im allgemeinen Interesse der Gemeinschaft die Aufgabe zu, die Ausführung des EG-Vertrags und der auf seiner Grundlage von den Organen erlassenen Vorschriften durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und etwaige Verstöße gegen die sich hieraus ergebenden Verpflichtungen feststellen zu lassen, damit sie abgestellt werden (Urteile vom 4. April 1974 in der Rechtssache 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359, Randnr. 15, vom 11. August 1995 in der Rechtssache C-431/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2189, Randnr. 21, und vom 5. November 2002 in der Rechtssache C-476/98, Kommission/Deutschland, Slg. 2002, I-9855, Randnr. 38).

Rn. 30
Zitat
In Anbetracht ihrer Rolle als Hüterin des Vertrages ist daher allein die Kommission für die Entscheidung zuständig, ob es angebracht ist, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, und wegen welcher dem betroffenen Mitgliedstaat zuzurechnenden Handlung oder Unterlassung dieses Verfahren zu eröffnen ist. Sie kann beim Gerichtshof daher die Feststellung einer Vertragsverletzung mit dem Vorbringen beantragen, dass das mit der Richtlinie bezweckte Ergebnis in einem bestimmten Fall nicht erreicht worden sei (Urteile vom 11. August 1995, Kommission/Deutschland, Randnr. 22, und vom 5. November 2002 in der Rechtssache C-471/98, Kommission/Belgien, Slg. 2002, I-9681, Randnr. 39).

Rn. 32
Zitat
Es trifft zu, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde (Urteile vom 27. November 1990 in der Rechtssache C-200/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-4299, Randnr. 13, vom 31. März 1992 in der Rechtssache C-362/90, Kommission/Italien, I-2353, Randnr. 10, und vom 7. März 2002 in der Rechtssache C-29/01, Kommission/Spanien, Slg. 2002, I-2503, Randnr. 11).

Rn. 35
Zitat
Außerdem enthält die Richtlinie 92/50 zwar im Wesentlichen Verfahrensvorschriften, sie ist jedoch gleichwohl erlassen worden, um die Hemmnisse für den freien Dienstleistungsverkehr zu beseitigen und somit die Interessen der in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Wirtschaftsteilnehmer zu schützen, die den in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen öffentlichen Auftraggebern Dienstleistungen anbieten möchten (vgl. insbesondere Urteil vom 18. Oktober 2001 in der Rechtssache C-19/00, SIAC Construction, Slg. 2001, I-7725, Randnr. 32).

Rn. 36
Zitat
Daher ist festzustellen, dass die durch die Missachtung der Bestimmungen der Richtlinie 92/50 erfolgte Beeinträchtigung des freien Dienstleistungsverkehrs während der gesamten Dauer der Erfüllung der unter Verstoß gegen diese Richtlinie geschlossenen Verträge fortdauert.

Rn. 41
Zitat
Wie der Gerichtshof nämlich bereits festgestellt hat, ist es seine Sache, festzustellen, ob die beanstandete Vertragsverletzung vorliegt oder nicht, auch wenn der betroffene Mitgliedstaat die Vertragsverletzung nicht mehr bestreitet und den Anspruch Einzelner auf Ersatz des ihnen dadurch eventuell entstandenen Schadens anerkennt (Urteil vom 22. Juni 1993 in der Rechtssache C-243/89, Kommission/Dänemark, Slg. 1993, I-3353, Randnr. 30).

Rn. 42
Zitat
Da die Feststellung einer von einem Mitgliedstaat begangenen Vertragsverletzung nicht die Feststellung voraussetzt, dass hierdurch ein Schaden verursacht worden ist (Urteil vom 18. Dezember 1997 in der Rechtssache C-263/96, Kommission/Belgien, Slg. 1997, I-7453, Randnr. 30), kann sich die Bundesrepublik Deutschland auch nicht darauf berufen, dass einem Dritten im Rahmen der mit der Gemeinde Bockhorn und der Stadt Braunschweig geschlossenen Verträge kein Schaden entstanden sei.

Rn. 45
Zitat
Die Kommission macht in der Rechtssache C-20/01 geltend, die Richtlinie 92/50 sei auf den fraglichen Auftrag anwendbar gewesen, der nach deren Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 15 Absatz 2 hätte ausgeschrieben werden müssen. Das Ergebnis des Vergabeverfahrens hätte nach Artikel 16 der Richtlinie 92/50 veröffentlicht werden müssen.
Es besteht also nicht nur eine unionsweite Ausschreibungspflicht ab Schwellenwert-Höhe des Auftragswertes, sondern auch die Veröffentlichung des Ausschreibungsergebnisses.

Rn. 58
Zitat
Hierzu ist zunächst festzustellen, dass Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 92/50, der Ausnahmen von den Vorschriften zulässt, die die Wirksamkeit der durch den EG-Vertrag im Bereich der öffentlichen Dienstleistungsaufträge eingeräumten Rechte gewährleisten sollen, eng auszulegen ist und dass die Beweislast dafür, dass die außergewöhnlichen Umstände, die die Ausnahme rechtfertigen, tatsächlich vorliegen, demjenigen obliegt, der sich auf sie berufen will (vgl. zu öffentlichen Bauaufträgen Urteil vom 28. März 1996 in der Rechtssache C-318/94, Kommission/Deutschland, Slg. 1996, I-1949, Randnr. 13)¹.

Rn. 59
Zitat
Artikel 11 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie 92/50 ist nur anwendbar, wenn nachgewiesen ist, dass es aus technischen oder künstlerischen Gründen oder aufgrund des Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten nur ein Unternehmen gibt, das zur Erfüllung des betreffenden Vertrages tatsächlich in der Lage ist. Da im vorliegenden Fall künstlerische oder Gründe des Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten nicht angeführt worden sind, ist nur zu prüfen, ob die von der deutschen Regierung geltend gemachten Gründe technische Gründe im Sinne dieser Bestimmung sein können.

Rn. 63
Zitat
Die Gefahr einer Verletzung des Diskriminierungsverbots ist jedoch besonders groß, wenn der Auftraggeber beschließt, einen bestimmten Auftrag nicht dem Wettbewerb zu öffnen.

Zitat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.    Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 15 Absatz 2 und Artikel 16 Absatz 1 der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge verstoßen, dass der Abwasservertrag der Gemeinde Bockhorn (Deutschland) nicht ausgeschrieben und das Ergebnis des Vergabeverfahrens nicht im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften bekannt gemacht wurde.

2.    Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 8 und 11 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie 92/50 verstoßen, dass die Stadt Braunschweig (Deutschland) einen Müllentsorgungsvertrag im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Vergabebekanntmachung vergeben hat, obwohl die Voraussetzungen des genannten Artikels 11 Absatz 3 für die freihändige Vergabe ohne gemeinschaftsweite Ausschreibung nicht vorlagen.

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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
L. A. GEELHOED
vom 28. November 2002(1)
Verbundene Rechtssachen C-20/01 und C-28/01

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=47547&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=1933952

Rn. 33
Zitat
Die in den vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren von der Kommission gesteckten Ziele sind für sich genommen nicht sehr weit gegriffen. Deutschland soll gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen haben, indem es bei der Vergabe zweier Vorhaben nicht die Vorschriften der Richtlinie eingehalten habe. Die Rechtssache C-20/01 zielt speziell auf eine Verurteilung wegen Verstoßes gegen Artikel 8 in Verbindung mit den Artikeln 15 Absatz 2 und 16 Absatz 1 der Richtlinie und die Rechtssache C-28/01 auf eine Verurteilung wegen Verstoßes gegen die Artikel 8 und 11 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie ab.

Rn. 48
Zitat
Die Richtlinie enthält für die Mitgliedstaaten eine dreifache Verpflichtung. Erstens haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die Richtlinie so in nationales Recht umgesetzt wird, dass sie die mit ihr angestrebten rechtlichen Wirkungen entfalten kann. Zweitens haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass die öffentlichen Auftraggeber den betreffenden Vorschriften auch tatsächlich nachkommen. Drittens müssen sie gegen drohende Verletzungen dieser Vorschriften einschreiten.

Rn. 49
Zitat
Zeigt sich im konkreten Fall, dass ein Mitgliedstaat diese dreifache Sorgfaltspflicht nicht oder nicht hinreichend erfüllt, so entsteht dadurch eine Situation, die dem von der Richtlinie gewollten Ergebnis entgegensteht. Der freie Dienstleistungsverkehr ist dann nicht mehr gewährleistet(12).

Rn. 50
Zitat
Insoweit hat die Kommission ein objektives Rechtsschutzinteresse an der Erwirkung eines Urteils des Gerichtshofes, mit dem festgestellt wird, dass die Bundesrepublik bei den fraglichen Auftragsvergaben der Gemeinde Bockhorn und der Stadt Braunschweig ihre Verpflichtungen verletzt hat. Eine solche Verurteilung geht über diese beiden Einzelfälle hinaus. Daraus folgt nämlich zugleich, dass die Bundesrepublik als Adressat der Richtlinie nicht alles zu deren Durchführung getan hat.

Rn. 54
Zitat
Daher muss die Kommission die Möglichkeit haben, im Rahmen von Einzelfällen vom Gerichtshof feststellen zu lassen, dass ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus der Richtlinie systematisch nicht nachkommt oder nicht nachzukommen droht.

Rn. 58
Zitat
Die fraglichen Verträge sind unter Vornahme rechtswidrigen Handelns zustande gekommen, was für die rechtliche Stellung von Beteiligten von Bedeutung ist, deren Interessen durch diese Rechtsverletzungen geschädigt worden sein könnten. Eine Verletzung der Verfahrensvorschriften der Richtlinie kann zu Ansprüchen Einzelner führen, darunter Schadensersatzansprüchen, die nach den entsprechenden Verfahren des nationalen Rechts geltend zu machen sind(15). Die Behauptung der deutschen Regierung, dass in den vorliegenden Rechtssachen Dritten kein Schaden entstanden sei, ist unerheblich, da dieser Umstand die Zulässigkeit einer nach Artikel 226 EG erhobenen Klage nicht berühren kann(16). Dieses Argument begegnet außerdem insoweit Bedenken, als nach den Verfahrensunterlagen die Kommission den angeblichen Unregelmäßigkeiten aufgrund von Beschwerden nachgegangen ist.

Rn. 61
Zitat
Auf das Sprichwort pacta sunt servanda kommt es hier nicht an, da die Kommission nicht in Abrede gestellt hat, dass die geschlossenen Verträge als solche fortbestehen können. Das lässt jedoch die beschriebene Möglichkeit von Schadensersatzansprüchen als alternatives Korrektiv unberührt. Daran ändert auch nichts, dass, wie die deutsche Regierung hervorhebt, das nationale Haftungsrecht ausreichend ist und eine auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Schadensersatzklage nicht erforderlich wäre. Für die Beantwortung der Frage, ob eine Klage wegen Verletzung der Richtlinie zulässig ist, kommt es jedenfalls auf den Stand des nationalen Haftungsrechts nicht entscheidend an.

Rn. 70
Zitat
Die Kommission weist zunächst darauf hin, dass die Abweichungsmöglichkeit des Artikels 11 Absatz 3 der Richtlinie als Ausnahme vom Grundsatz eng auszulegen sei. Nur wenn der fragliche Auftrag aus den in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten Gründen tatsächlich nur von einem einzelnen Unternehmen ausgeführt werden könne, sei eine freihändige Vergabe zulässig. Der Beweis sei aber nicht erbracht worden, dass der Auftrag im vorliegenden Fall ausschließlich von BKB habe ausgeführt werden können.

Rn. 75
Zitat
Insbesondere besteht bei der Anwendung von Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie generell die Gefahr mittelbarer Diskriminierungen, da diese Ausnahmebestimmung per definitionem von einer Ungleichbehandlung und einer Bevorzugung eines einzelnen Auftragnehmers ausgeht. Der Standpunkt der deutschen Regierung führt dazu, dass den in Braunschweig ansässigen Interessenten Vorrang eingeräumt wird und anderswo vorhandene Beschaffungsquellen schon von vornherein ausgeschlossen werden. Die Beweislast ist somit bei diesem Abweichungsgrund verschärft.

Fußnote:
Zitat
12: -    Die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge auf Gemeinschaftsebene soll die Hemmnisse u. a. für den freien Dienstleistungsverkehr beseitigen und somit die Interessen der in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Wirtschaftsteilnehmer schützen, die den in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen öffentlichen Auftraggebern Dienstleistungen anbieten möchten (vgl. z. B. Urteil vom 18. Oktober 2001 in der Rechtssache C-19/00, SIAC Construction, Slg. 2001, I-7725, Randnr. 32). Siehe auch die zwanzigste Begründungserwägung der Richtlinie).

¹

Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 28. März 1996. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Bundesrepublik Deutschland. - Vertragsverletzungsverfahren - Öffentliche Bauaufträge - Keine Veröffentlichung der Bekanntmachung eines Auftrags. - Rechtssache C-318/94.
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A61994CJ0318&qid=1627385300202

Zitat
13 Demnach ist Artikel 9 der Richtlinie 71/305, der Ausnahmen von den Vorschriften zulässt, die die Wirksamkeit der durch den EG-Vertrag im Bereich der öffentlichen Bauaufträge eingeräumten Rechte gewährleisten sollen, eng auszulegen; die Beweislast dafür, daß die aussergewöhnlichen Umstände, die die Ausnahme rechtfertigen, tatsächlich vorliegen, obliegt demjenigen, der sich auf sie berufen will (Urteil vom 18. Mai 1995 in der Rechtssache C-57/94, Kommission/Italien, Slg. 1995, I-1249, Randnr. 23).


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