URTEIL DES GERICHTSHOFES
30. September 2003(1)
„Gleichbehandlung - Entgelt von Universitätsprofessoren - Mittelbare Diskriminierung - Dienstalterszulage - Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Mitgliedstaat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind - Einem nationalen Gericht zuzurechnende Verstöße“
In der Rechtssache C-224/01https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=48649&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=1319794Rn. 114Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Verwaltungsgerichtshof die Klassifizierung der besonderen Dienstalterszulage nach nationalem Recht abgeändert hat, nachdem ihn der Kanzler des Gerichtshofes um Mitteilung ersucht hatte, ob er sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.
Rn. 115Infolge dieser Umklassifizierung der in § 50a GG vorgesehenen besonderen Dienstalterszulage wies der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde des Klägers ab. In seinem Urteil vom 24. Juni 1998 leitete er nämlich aus dem Urteil Schöning-Kougebetopoulou ab, dass diese Zulage, da sie als Treueprämie zu qualifizieren sei, auch dann gerechtfertigt sein könne, wenn sie an sich gegen das Diskriminierungsverbot des Artikels 48 EG-Vertrag verstoße.
Rn. 116Wie sich aus den Randnummern 80 und 82 des vorliegenden Urteils ergibt, hat sich der Gerichtshof im Urteil Schöning-Kougebetopoulou zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine mit einer Treueprämie einhergehende Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gerechtfertigt sein könnte, nicht geäußert. Die Erwägungen, die der Verwaltungsgerichtshof aus diesem Urteil abgeleitet hat, beruhen daher auf einer irrigen Auslegung des Urteils.
Rn. 117Da der Verwaltungsgerichtshof somit zum einen seine Auslegung des nationalen Rechts durch Klassifizierung der in § 50a GG vorgesehenen Maßnahme als Treueprämie änderte, nachdem ihm das Urteil Schöning-Kougebetopoulou übersandt worden war, und der Gerichtshof sich zum anderen noch nicht zu der Frage geäußert hatte, ob eine mit einer Treueprämie einhergehende Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gerechtfertigt sein könnte, hätte der Verwaltungsgerichtshof sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten müssen.
Rn. 118Der Verwaltungsgerichtshof durfte nämlich nicht davon ausgehen, dass sich die Lösung der Rechtsfrage einer gesicherten Rechtsprechung des Gerichtshofes entnehmen oder keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel lasse (vgl. Urteil vom 6. Oktober 1982 in der Rechtssache 283/81, CILFIT u. a., Slg. 1982, 3415, Randnrn. 14 und 16). Er war daher nach Artikel 177 Absatz 3 EG-Vertrag verpflichtet, sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten.
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien mit Beschluss vom 7. Mai 2001 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz von Schäden verpflichtet sind, die einem Einzelnen durch ihnen zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, ist auch dann anwendbar, wenn der fragliche Verstoß in einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts besteht, sofern die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen diesem Verstoß und dem dem Einzelnen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht. Bei der Entscheidung darüber, ob der Verstoß hinreichend qualifiziert ist, muss das zuständige nationale Gericht, wenn sich der Verstoß aus einer letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung ergibt, unter Berücksichtigung der Besonderheit der richterlichen Funktion prüfen, ob dieser Verstoß offenkundig ist. Es ist Sache der Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten über diesen Schadensersatz zuständig ist.
2. Die Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) und 7 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft sind dahin auszulegen, dass sie untersagen, eine besondere Dienstalterszulage, die nach der vom österreichischen Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 24. Juni 1998 vertretenen Auslegung eine Treueprämie darstellt, nach Maßgabe einer Bestimmung wie des § 50a des Gehaltsgesetzes 1956 in der Fassung von 1997 zu gewähren.
3. Ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, wie er sich unter den Umständen des Ausgangsverfahrens aus dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juni 1998 ergibt, ist nicht offenkundig, wie es nach Gemeinschaftsrecht Voraussetzung der Haftung eines Mitgliedstaats für eine Entscheidung eines seiner letztinstanzlichen Gerichte ist.
Die Haftung des Staates ist also immer gegeben, wenn sich der Staat über Bestimmungen des Unionsrechtes hinwegsetzt, die dem Einzelnen Rechte verleihen; mißachtet ein letztinstanzliches Gericht unionsrechtliche Normen, begrenzt sich die Staatshaftung allerdings auf offensichtliche Verstöße.
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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
PHILIPPE LÉGER
vom 8. April 2003(1)
Rechtssache C-224/01https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=48192&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=1319794Rn. 1Kann die Haftung eines Mitgliedstaats wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht ausgelöst werden, wenn dieser Verstoß von einem Höchstgericht begangen wurde? Hat der fragliche Mitgliedstaat dem Einzelnen die daraus resultierenden Schäden zu ersetzen? Wenn ja, welche Voraussetzungen gelten für eine solche Haftung?
Rn. 14Das vorlegende Gericht wirft im Wesentlichen vier Gruppen von Fragen auf.
Die erste Gruppe betrifft die etwaige Ausdehnung des der Rechtsprechung zu entnehmenden Grundsatzes der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, auf den Fall, dass dieser Verstoß einem Höchstgericht anzulasten ist(18).
Die zweite Gruppe bezieht sich auf die materiellen Voraussetzungen für die Entstehung einer solchen Haftung(19).
Die dritte Gruppe betrifft die Bestimmung des für die Beurteilung des Vorliegens der materiellen Voraussetzungen zuständigen Gerichts(20).
In der vierten Gruppe geht es darum, ob diese materiellen Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind(21).
Rn. 15Es ist hervorzuheben, dass alle diese Fragen ausschließlich die Höchstgerichte und nicht die gewöhnlichen Gerichte betreffen. Infolgedessen werde ich meine Analyse auf den Fall der Höchstgerichte beschränken und die gewöhnlichen Gerichte ausklammern.
Rn. 26Die Tragweite des Grundsatzes der Haftung des Staates für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht ist anhand der beiden oben genannten wegweisenden Urteile des Gerichtshofes zu dieser Frage, zunächst des Urteils Francovich u. a. und dann des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame, zu analysieren.
Rn. 27Der Grundsatz der Staatshaftung wurde vom Gerichtshof im Urteil Francovich u. a. in einem besonderen Fall aufgestellt, der durch die fehlende Umsetzung einer Richtlinie ohne unmittelbare Wirkung gekennzeichnet war, so dass der Einzelne daran gehindert war, sich vor den nationalen Gerichten auf die ihm durch diese Richtlinie verliehenen Rechte zu berufen(23). Trotz der Außergewöhnlichkeit des in Rede stehenden, besonders „pathologischen“ Sachverhalts, äußerte sich der Gerichtshof in ganz allgemeinen Worten: „Es ist ... ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind.“(24) Nähere Angaben zu dem staatlichen Organ, das den Schaden verursacht hat, machte er nicht.
Rn. 28Diese Schlussfolgerung beruht auf einer Analyse von ebenfalls ganz allgemeiner Tragweite. Der Gerichtshof führt aus: „Der Grundsatz einer Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, folgt ... aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung.“(25) Dieser Grundsatz hängt in gewisser Weise untrennbar mit dem System des Vertrages zusammen, er ist notwendigerweise mit ihm verbunden. Diese unauflösliche und unüberwindbare Verbindung zwischen dem Grundsatz der Haftung des Staates und dem System des Vertrages beruht auf dem speziellen Charakter der Gemeinschaftsrechtsordnung.
Rn. 29Der Gerichtshof weist nämlich auf Folgendes hin: „Der EWG-Vertrag hat eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von den nationalen Gerichten anzuwenden ist. Rechtssubjekte dieser Rechtsordnung sind nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch der Einzelne, dem das Gemeinschaftsrecht, ebenso wie es ihm Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen kann. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der EWG-Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der EWG-Vertrag dem Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt ...“(26)
Rn. 30Weiter führt er aus: „Nach ständiger Rechtsprechung müssen die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden haben, die volle Wirkung dieser Bestimmungen gewährleisten und die Rechte schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen verleiht ...“(27)
Rn. 32Ergänzend führt der Gerichtshof aus, nach Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG) seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beheben(29).
Rn. 36Meines Erachtens sind die vom Gerichtshof im Urteil Francovich u. a. angestellten Erwägungen in vollem Umfang auf den Fall eines Verstoßes eines Höchstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht übertragbar. Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Höchstgericht anzulasten ist.
Rn. 43Zur einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts hat der Gerichtshof entschieden, dass „in Anbetracht des Grunderfordernisses der Gemeinschaftsrechtsordnung, das die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts darstellt ..., die Verpflichtung zum Ersatz der dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstandenen Schäden nicht von den internen Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten auf die Verfassungsorgane abhängen [kann]“(34). Meines Erachtens gilt dieses Grunderfordernis der Gemeinschaftsrechtsordnung für die Gerichte in gleichem Maß wie für die Parlamente. Die Garantie der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts - an der die Staatshaftung großen Anteil hat - kann nicht vom Willen der Mitgliedstaaten und von ihren innerstaatlichen Vorschriften über die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Verfassungsorganen oder über den Status und die Tätigkeitsvoraussetzungen der Staatsorgane abhängen(35).
Rn. 44Zur Staatshaftung im Völkerrecht hat der Gerichtshof entschieden, dass „im Völkerrecht der Staat, dessen Haftung wegen Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung ausgelöst wird, ebenfalls als Einheit betrachtet [wird], ohne dass danach unterschieden wird, ob der schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen ist“(36). Er hat hinzugefügt, dies gelte umso mehr in der Gemeinschaftsrechtsordnung, als dort der Rechtslage des Einzelnen besonderes Interesse geschenkt werde(37).
Rn. 46Erstens bedeutet dieser Grundsatz, dass eine rechtswidrige Handlung zwingend dem Staat zugerechnet wird und nicht dem Staatsorgan, das sie vorgenommen hat. Völkerrechtssubjekt ist nämlich nur der Staat, nicht aber dessen Organe. Insoweit kann nur die Haftung des Staates ausgelöst werden(38). Dieser Grundsatz ist dem Gemeinschaftsrecht nicht fremd(39), und im Übrigen auch nicht dem innerstaatlichen Recht(40). Wie ich bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Hedley Lomas ausgeführt habe, kennt das Gemeinschaftsrecht „nur einen Haftenden (den Staat), ebenso wie die Vertragsverletzungsklage nur einen Beklagten kennt (den Staat)“(41). Folglich hat „[n]icht ein bestimmtes Staatsorgan ... zu entschädigen, sondern der Mitgliedstaat als solcher“(42).
Rn. 47Zweitens bedeutet der Grundsatz der Einheit des Staates, dass dieser für die Schäden verantwortlich ist, die er durch jede gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verstoßende Handlung oder Unterlassung verursacht, gleichgültig, auf welche staatliche Stelle sie zurückgeht. Dieser Grundsatz kommt in Artikel 4 Absatz 1 des von der Völkerrechtskommission ausgearbeiteten und am 28. Januar 2002 durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen gebilligten Entwurfs von Artikeln über die Verantwortlichkeit der Staaten klar zum Ausdruck(43). Er lautet: „Das Verhalten eines jeden Staatsorgans(44) ist als Handlung des Staates im Sinne des Völkerrechts zu werten, gleichviel ob das Organ Aufgaben der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt, der Rechtsprechung oder andere Aufgaben wahrnimmt, welche Stellung es innerhalb des Staatsaufbaus einnimmt und ob es sich um ein Organ der Zentralregierung oder einer Gebietseinheit des Staates handelt.“(45)
Rn. 49Das durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) geschaffene System wirft ein interessantes Licht auf die Frage der Haftung des Staates für ein Höchstgericht. Der Einzelne kann sich nämlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unmittelbar auf die Haftung des Staates für ein Höchstgericht wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an ein faires Verfahren - in procedendo -, aber auch wegen eines Verstoßes gegen eine materielle Vorschrift - in iudicando - berufen, der sich auf den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung auswirken kann(48). Dank eines solchen Verfahrens können die Bürger Schadensersatz in Form einer „gerechten Entschädigung“ erhalten. Interessant ist dabei, wie einige Regierungen ausgeführt haben, dass das Erfordernis der Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe bedeutet, dass die streitige gerichtliche Entscheidung von einem Höchstgericht stammt. Unklar ist dagegen, ob Artikel 13 EMRK die Vertragsstaaten verpflichtet, dem Einzelnen eine innerstaatliche Rechtsschutzmöglichkeit - einschließlich einer Schadensersatzklage - gegen eine gerichtliche Entscheidung zur Verfügung zu stellen(49).
Rn. 54Die Aufgabe der nationalen Gerichte beruht auf einer doppelten Verpflichtung: ihr innerstaatliches Recht so weit wie möglich im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht auszulegen und, wenn dies nicht möglich ist, die Anwendung von innerstaatlichem Recht, das gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, abzulehnen(54).
Rn. 58Aus dem Urteil Simmenthal¹ ergibt sich, dass das nationale Gericht eine mit einer Erfolgspflicht vergleichbare Hauptpflicht trifft. Es muss für den unmittelbaren Schutz der Rechte sorgen, die dem Einzelnen nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen. Dieses Erfordernis der Unmittelbarkeit des Schutzes der durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte entspricht einem doppelten Wirksamkeitsziel: Wirksamkeit des Schutzes und infolgedessen Wirksamkeit der Rechtsnorm selbst.
Rn. 62Die Einbeziehung des nationalen Gerichts in den Schutz der aus der Gemeinschaftsrechtsordnung abgeleiteten Rechte wird besonders deutlich im Rahmen von Streitigkeiten über die Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge. Schon 1983 hat der Gerichtshof entschieden, dass „das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die den Einzelnen durch die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften eingeräumt worden sind, nach denen Abgaben mit gleicher Wirkung wie Zölle oder - gegebenenfalls - die diskriminierende Erhebung von inländischen Abgaben verboten sind“(63). Dieses Erstattungsrecht bedeutet, dass auf innerstaatlicher Ebene ein geeigneter Rechtsbehelf zur Verfügung gestellt werden muss, der es dem Einzelnen ermöglicht, die zu Unrecht von ihm tatsächlich gezahlten Beträge in vollem Umfang zurückzuerlangen. Es bedeutet zugleich, dass das nationale Gericht verpflichtet ist, der Verwaltung die Erstattung der streitigen Beträge an die Betroffenen aufzugeben.
Rn. 65Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die nationalen Gerichte in bestimmten Fällen verpflichtet sind, von Amts wegen rechtliche Gesichtspunkte zu prüfen, die sich aus der Gemeinschaftsrechtsordnung ergeben, auch wenn keine Partei sich darauf berufen hat(66).
Rn. 70Meines Erachtens bedeutet die übereinstimmende Respektierung der Rechtsordnung der Gemeinschaft durch die Mitgliedstaaten entsprechend den Erfordernissen einer aus Rechtsstaaten bestehenden Rechtsgemeinschaft, dass die Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht unabhängig davon haften, ob sie von der Legislative, der Exekutive oder der Judikative begangen wurden. Es ist nämlich nicht ersichtlich, weshalb ein Mitgliedstaat a priori jeder Haftung für seine Höchstgerichte entbunden sein sollte, obwohl gerade diese die Aufgabe haben, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden und ihm Geltung zu verschaffen. Dies wäre offensichtlich ein unüberbrückbarer Widerspruch. Daraus folgt, dass die Besonderheit der richterlichen Funktion gegenüber der Funktion der Verwaltung oder der Gesetzgebung zwar die Schaffung einer besonderen Haftungsregelung, keinesfalls aber a priori einen Ausschluss des Grundsatzes der Haftung des Staates für seine Höchstgerichte rechtfertigen kann.
VI - Zu den materiellen Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung des Staates für einen Verstoß eines Höchstgerichts gegen das Gemeinschaftsrecht
Rn. 120In diesem Stadium stellt sich sofort eine Frage: Unterliegt die Festlegung der materiellen Voraussetzungen für eine solche Haftung dem nationalen Recht oder dem Gemeinschaftsrecht?
Rn. 123Der vom Gerichtshof aufgestellte Grundsatz wird von ihm nunmehr üblicherweise so formuliert, dass „das Gemeinschaftsrecht einen Entschädigungsanspruch an[erkennt], sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich dass die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, dass der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und schließlich dass zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht“(103). Zu ermitteln sind Bedeutung und Tragweite dieser drei materiellen Voraussetzungen hinsichtlich der Haftung des Staates für die Höchstgerichte, wobei daran zu erinnern ist, dass es sich dabei um Mindestvoraussetzungen handelt. Sie schließen nicht aus, dass die Haftung des Staates auf der Grundlage des nationalen Rechts unter weniger einschränkenden Voraussetzungen ausgelöst werden kann(104).
Rn. 124Es ist allgemein anerkannt, dass das Erfordernis, wonach die verletzte Rechtsnorm bezwecken muss, dem Einzelnen Rechte zu verleihen², nicht zwangsläufig bedeutet, dass die betreffende Norm keine unmittelbare Wirkung hat. Es genügt, dass sie mit der Zuerkennung von Rechten an den Einzelnen verbunden ist und dass der Inhalt dieser Rechte (auf der Grundlage der Bestimmungen der fraglichen Norm) mit hinreichender Genauigkeit bestimmt werden kann(105). Die unmittelbare Wirkung der fraglichen Rechtsnorm ist nicht nötig, aber ausreichend, um diesem Erfordernis zu genügen. Meines Erachtens ist dieses die Haftung des Staates für den Gesetzgeber oder die Verwaltung betreffende Erfordernis auf den Fall der Haftung für Höchstgerichte übertragbar.
Rn. 132Erstens kann die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat, der zum Zeitpunkt dieser Rechtsverletzung nicht zwischen verschiedenen gesetzgeberischen Möglichkeiten zu wählen hatte und über einen erheblich verringerten oder gar auf Null reduzierten Gestaltungsspielraum verfügte, ausreichen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen. Dies ist der Fall, wenn das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Gesetzgeber in einem dem Gemeinschaftsrecht unterliegenden Bereich Ergebnispflichten, Verhaltenspflichten (wie die Umsetzung einer Richtlinie innerhalb einer bestimmten Frist)(110) oder Unterlassungspflichten auferlegt. Diese weite Auffassung von der Haftung des Staates wurde vom Gerichtshof mehrfach angewandt, u. a. bei der Nichtumsetzung einer Richtlinie(111), bei einer Umsetzung unter Missachtung der zeitlichen Wirkungen einer Richtlinie(112) und bei der Weigerung der Verwaltung, eine Ausfuhrlizenz zu erteilen, obwohl die Erteilung aufgrund der Existenz von Harmonisierungsrichtlinien in dem betreffenden Bereich quasi automatisch hätte erfolgen müssen(113).
Rn. 133Zweitens haftet ein Mitgliedstaat, der in einem Bereich tätig wird, in dem er über ein weites Ermessen verfügt, nur bei einem hinreichend qualifizierten Verstoß, d. h., wenn er bei seiner Rechtsetzungstätigkeit die Grenzen, die der Ausübung seines Ermessens gesetzt sind, offenkundig und in schwerwiegender Weise verletzt hat(114).
Rn. 140So kann die Haftung des Staates z. B. dann eintreten, wenn ein Höchstgericht eine gegen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts verstoßende Entscheidung erlässt, obwohl ihre Bedeutung und Tragweite offensichtlich sind. Dies wäre der Fall, wenn der Wortlaut der fraglichen Bestimmungen in allen Punkten klar, genau und frei von Mehrdeutigkeiten ist, so dass er letztlich keinen Raum für Auslegungen bietet, sondern nur für ihre schlichte Anwendung. ²
Rn. 141Die Haftung des Staates kann z. B. auch dann eintreten, wenn ein Höchstgericht eine Entscheidung erlässt, die offensichtlich gegen die Rechtsprechung des Gerichtshofes verstößt, wie sie sich am Tag des Erlasses der fraglichen Entscheidung darstellt. Die Urteile des Gerichtshofes, insbesondere soweit sie im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren ergangen sind, binden nämlich zwangsläufig die nationalen Gerichte hinsichtlich der Auslegung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts(122). Diese Gerichte dürfen nicht von der Rechtsprechung des Gerichtshofes abweichen. Sie sind nur berechtigt, eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zweckdienliche Erläuterungen zur Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits zu erhalten(123).
Rn. 143Bekanntlich hat der Gerichtshof immer wieder entschieden(124), dass durch seine Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden gewesen wäre, so dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor dem auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteil entstanden sind, anwenden können und müssen. Meines Erachtens ist aber hinzuzufügen, dass diese Rechtsverhältnisse nicht durch eine gerichtliche Entscheidung endgültig geklärt worden sein dürfen; dies gilt vor allem, wenn es sich um eine nicht mit Rechtsmitteln anfechtbare Entscheidung handelt. Wurden die fraglichen Rechtsverhältnisse durch eine Entscheidung eines Höchstgerichts endgültig geklärt, so steht der Grundsatz der Rechtssicherheit jeder auf sie gestützten Schadensersatzklage gegen den Staat entgegen(125).
Die Frage des Rechtsverhältnisses zwischen den Rundfunkunternehmen im Sinne des Unionsrechts und Rundfunk
nichtinteressenten wurde bislang von keinem Höchstgericht abschließend geklärt, so daß es hier konkret auch keinerlei Rechtssicherheit hat, die eine Schadensersatzklage gegen den Staat vereiteln würde.
Rn. 148Unter diesen Bedingungen ist es logisch und vernünftig, davon auszugehen, dass eine offensichtliche Verletzung der Vorlagepflicht durch ein Höchstgericht als solche die Haftung des Staates auslösen kann.
Rn. 153Diese Ausführungen und die genannten Beispiele zeigen, dass bei der Beurteilung der Frage, ob ein Höchstgericht einen hinreichend qualifizierten Verstoß begangen hat, der die Haftung des Staates auslösen kann, zu prüfen ist, ob dieses Gericht einen entschuldbaren oder unentschuldbaren Rechtsfehler begangen hat.
Fußnote:31: - Insoweit betrifft die Frage der Haftung des Staates für seine Höchstgerichte eine Problematik, die sich deutlich von der Frage der Haftung des Staates für seine gewöhnlichen Gerichte oder für alle seine Gerichte unterscheidet.
¹EuGH Rechtssache 106/77 - Unmittelbare Bindung des Gemeinschaftsrechtshttps://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=35440.0²Hier zu nennen bspw.
Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Text von Bedeutung für den EWR)https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1582058369858&uri=CELEX:02011L0083-20180701Artikel 27
Unbestellte Waren und Dienstleistungen
Werden unter Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 5 und Anhang I Nummer 29 der Richtlinie 2005/29/EG unbestellte Waren, Wasser, Gas, Strom, Fernwärme oder digitaler Inhalt geliefert oder unbestellte Dienstleistungen erbracht, so ist der Verbraucher von der Pflicht zur Erbringung der Gegenleistung befreit. In diesen Fällen gilt das Ausbleiben einer Antwort des Verbrauchers auf eine solche unbestellte Lieferung oder Erbringung nicht als Zustimmung.
Bei Verarbeitung pers.-bez.-Daten ist das Unionsgrundrecht unmittelbar bindend; (BVerfG 1 BvR 276/17 & BVerfG 1 BvR 16/13)
Keine Unterstützung für
- Amtsträger, die sich über europäische wie nationale Grundrechte hinwegsetzen oder dieses in ihrem Verantwortungsbereich bei ihren Mitarbeitern, (m/w/d), dulden;
- Parteien, deren Mitglieder sich als Amtsträger über Grundrechte hinwegsetzen und wo die Partei dieses duldet;
- Gegner des Landes Brandenburg wie auch gesamt Europas;