URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
13. Oktober 2022(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 273 – Maßnahmen zur Sicherstellung einer genauen Erhebung der Mehrwertsteuer – Art. 325 Abs. 1 AEUV – Pflicht zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Mehrwertsteuerschulden einer steuerpflichtigen juristischen Person – Nationale Regelung, die eine gesamtschuldnerische Haftung des nichtsteuerpflichtigen Vorstands der juristischen Person vorsieht – Vom Vorstand unredlich vorgenommene Verfügungen – Vermögensminderung der juristischen Person, die zur Insolvenz führt – Nichtabführung der von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge innerhalb der vorgesehenen Fristen – Verzugszinsen – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C-1/21https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=267130&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=457508760 So geht u. a. aus den Art. 2 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 Abs. 1 AEUV hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer sicherzustellen und den Betrug zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 47, vom 20. März 2018, Menci, C-524/15, EU:C:2018:197, Rn. 18, und vom 17. Mai 2018, Vámos, C-566/16, EU:C:2018:321, Rn. 37).
58 Nach dem Beschluss 2014/335/EU, Euratom, des Rates vom 26. Mai 2014 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union (ABl. 2014, L 168, S. 105) umfassen die Eigenmittel der Union u. a. die Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach Unionsvorschriften bestimmten harmonisierten Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlagen ergeben. Folglich besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union. Denn jedes Versäumnis bei der Erhebung Ersterer führt potenziell zu einer Verringerung Letzterer (Urteile vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C-42/17, EU:C:2017:936, Rn. 31, sowie vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C-310/16, EU:C:2019:30, Rn. 26).
73 Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten Mittel einsetzen müssen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die jedoch die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Unionsrechts möglichst wenig beeinträchtigen. Demnach ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen; sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij, C-499/10, EU:C:2011:871, Rn. 21 und 22, sowie vom 20. Mai 2021, ALTI, C-4/20, EU:C:2021:397, Rn. 33).
74 Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass nationale Maßnahmen, die de facto ein System der verschuldensunabhängigen gesamtschuldnerischen Haftung einführen, über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Ansprüche der Staatskasse zu schützen. Es ist daher als unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzusehen, die Haftung für die Mehrwertsteuer einer anderen Person als dem Steuerschuldner aufzuerlegen, ohne es dieser Person zu ermöglichen, sich der Haftung zu entziehen, indem sie den Beweis erbringt, dass sie mit den Machenschaften des Steuerschuldners nichts zu tun hat. Es wäre nämlich offenkundig unverhältnismäßig, dieser Person ohne wenn und aber den Verlust von Steuereinnahmen anzulasten, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hat (Urteil vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij, C-499/10, EU:C:2011:871, Rn. 24).
75 Unter diesen Umständen muss die Ausübung der Befugnis der Mitgliedstaaten, zur Sicherstellung einer wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer einen anderen Gesamtschuldner als den Steuerschuldner zu bestimmen, im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit durch das tatsächliche und/oder rechtliche Verhältnis zwischen den beiden betroffenen Personen gerechtfertigt sein. Es ist insbesondere Sache der Mitgliedstaaten, die besonderen Umstände festzulegen, unter denen eine Person wie der Empfänger eines steuerpflichtigen Umsatzes gesamtschuldnerisch für die Zahlung der von seinem Vertragspartner geschuldeten Steuer haftet, obwohl er diese durch Zahlung des Preises für diesen Umsatz bereits entrichtet hat (Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI, C-4/20, EU:C:2021:397, Rn. 34).
79 Erstens muss die zum Gesamtschuldner bestimmte Person die Eigenschaft eines Geschäftsführers oder Mitglieds eines Leitungsorgans der juristischen Person haben, die die Mehrwertsteuer schuldet, und kann daher als an der Beschlussfassung innerhalb dieser juristischen Person beteiligt angesehen werden.
80 Zweitens muss die zum Gesamtschuldner bestimmte Person unredlich Zahlungen aus dem Vermögen der juristischen Person geleistet haben, die als verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden eingestuft werden können, oder dieses Vermögen ganz oder teilweise unentgeltlich oder zu Preisen übertragen haben, die erheblich niedriger als die Marktpreise sind.
81 Drittens muss zwischen den Handlungen, die die zum Gesamtschuldner bestimmte Person unredlich vorgenommen hat, und der Unfähigkeit der juristischen Person, die von ihr geschuldete Mehrwertsteuer abzuführen, ein Kausalzusammenhang bestehen.
82 Viertens ist der Umfang der gesamtschuldnerischen Haftung auf die Vermögensminderung beschränkt, die der juristischen Person aufgrund der unredlich vorgenommenen Handlungen entstanden ist.
83 Fünftens schließlich wird diese Haftung nur hilfsweise ausgelöst, wenn es sich als unmöglich erweist, die von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge beizutreiben.
Obige Aussagen der Rnn. 79ff sind auch im Tenor zu finden.
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 2. Juni 2022(1)
Rechtssache C-1/21https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=260202&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=4575087Querverweis:EuGH 235/85 - Notare und Gerichtsvollzieher sind mehrwertsteuerpflichtighttps://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=37164.0
Bei Verarbeitung pers.-bez.-Daten ist das Unionsgrundrecht unmittelbar bindend; (BVerfG 1 BvR 276/17 & BVerfG 1 BvR 16/13)
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