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Allgemeines => Dies und Das! => Thema gestartet von: pinguin am 09. Juni 2021, 20:34
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Aufforderungsschreiben
Vorrang des EU-Rechts: Kommission richtet Aufforderungsschreiben an DEUTSCHLAND wegen Verstoßes gegen die Grundprinzipien des EU-Rechts
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/DE/inf_21_2743
Die Europäische Kommission hat heute beschlossen, ein Aufforderungsschreiben an Deutschland zu richten, weil das Land gegen die Grundprinzipien des EU-Rechts, insbesondere die Grundsätze der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts, sowie den Grundsatz der Achtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß Artikel 267 AEUV verstoßen hat. Am 5. Mai 2020 hatte das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem Urteil zum Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten der Europäischen Zentralbank (EZB) befunden, dass dieses Programm „ultra vires“ sei und nicht in den Zuständigkeitsbereich der EZB falle. In demselben Urteil stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass ein Urteil des Gerichtshofs (Rechtssache Heinrich Weis u. a.) „ultra vires“ ergangen sei, ohne die Angelegenheit zurück an den Gerichtshof zu verweisen. Damit sprach das Bundesverfassungsgericht einem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Rechtswirkung in Deutschland ab und verstieß somit gegen den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts. Aus diesem Grund wird das Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Mit Beschluss vom 29. April 2021 verwarf das Bundesverfassungsgericht zwei Vollstreckungsanträge zu seinem Urteil vom 5. Mai 2020. Mit diesem Beschluss vom 29. April 2021 wird jedoch der Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts nicht aufgehoben. Nach Ansicht der Kommission stellt das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts einen ernstzunehmenden Präzedenzfall sowohl für die künftige Praxis des Gerichts selbst als auch für die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten dar. Deutschland hat nun zwei Monate Zeit, um zu den Beanstandungen der Kommission Stellung zu nehmen.
Die entsprechende Entscheidung des BVerfG
BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 29. April 2021
- 2 BvR 1651/15 -, Rn. 1-111,
http://www.bverfg.de/e/rs20210429_2bvr165115.html
Pressemeldungen dazu, bspw:
EU-Kommission leitet wegen EZB-Urteil Verfahren gegen Deutschland ein
https://www.welt.de/politik/deutschland/article231690907/EZB-Urteil-EU-Kommission-leitet-Verfahren-gegen-Deutschland-ein.html
EU-Kommission bereitet Verfahren gegen Deutschland vor
https://www.welt.de/wirtschaft/article231672745/EZB-Urteil-EU-Kommission-bereitet-Verfahren-gegen-Deutschland-vor.html
„Ich nehme diese Sache sehr ernst“, betonte von der Leyen im Mai 2020. Sie argumentierte, dass es drei Grundprinzipien gebe: Die Währungspolitik sei allein Sache der EU; EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht; EuGH-Urteile seien für nationale Gerichte bindend. „Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst.“
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Hatte das auch schon gesehen. Aber inwieweit würde das helfen? Die Richter am EuGH werden sicher nicht dazu übergehen und Beispiele für schlechte Rechtsprechung ala BVerfG Urteil 2018 suchen.
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Hatte das auch schon gesehen. Aber inwieweit würde das helfen? Die Richter am EuGH werden sicher nicht dazu übergehen und Beispiele für schlechte Rechtsprechung ala BVerfG Urteil 2018 suchen.
-> Wettbewerbsrecht ist Unionsrecht -> Unternehmensgleichbehandlung wird von der Union vorgegeben; und nun frage Dich, wo private und öffentliche Rundfunkunternehmen gleich behandelt werden?
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Das ist ja soweit richtig, aber hat doch jetzt nichts mit dem EZB Urteil zu tun? Da müsste die EU Kommission gesondert feststellen, dass Deutschland dies verletzt
Edit: wenn ich so überlege.. das Ergebnis könnte durchaus sein, dass solche Angelegenheiten nicht vom BVerfG, sondern immer vom EuGH entschieden werden müssen, oder? Dann könnte man BVerfG beim Wettbewerbsrecht übergehen und gleich vor EuGH klagen. Meinst du das?
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Edit: wenn ich so überlege.. das Ergebnis könnte durchaus sein, dass solche Angelegenheiten nicht vom BVerfG, sondern immer vom EuGH entschieden werden müssen, oder? Dann könnte man BVerfG beim Wettbewerbsrecht übergehen und gleich vor EuGH klagen. Meinst du das?
Die Ungleichbehandlung der privaten und öffentlichen Rundfunkunternehmen könnte zum Vertragsverletzungsverfahren führen.
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Hier hat es einen neuen Stand.
Das Vertragsverletzungsverfahren wurde unter Auflagen eingestellt; diese Auflagen binden jedoch auch die künftige Bundesregierung.
Vertragsverletzungsverfahren im Dezember: wichtigste Beschlüsse
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/inf_21_6201
Vorrang des EU-Rechts: Kommission stellt Vertragsverletzungsverfahren gegen DEUTSCHLAND aufgrund dessen förmlicher Zusage ein, den Vorrang des EU-Rechts und die Autorität des Gerichtshofs der Europäischen Union eindeutig anzuerkennen
Die Kommission hat heute beschlossen, das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 im Zusammenhang mit dem Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors („PSPP“) der Europäischen Zentralbank einzustellen. Die Kommission hält es aus drei Gründen für angebracht, das Vertragsverletzungsverfahren einzustellen. Erstens hat Deutschland in seiner Antwort auf das Aufforderungsschreiben sehr klare Zusagen gemacht.
Insbesondere hat Deutschland förmlich erklärt, dass es die Grundsätze der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie die in Artikel 2 EUV verankerten Werte, insbesondere die Rechtsstaatlichkeit, bekräftigt und anerkennt.
Zweitens erkennt Deutschland ausdrücklich die Autorität des Gerichtshofs der Europäischen Union an, dessen Entscheidungen rechtskräftig und bindend sind.
Das Land ist ferner der Ansicht, dass die Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane nicht von der Prüfung von Verfassungsbeschwerden vor deutschen Gerichten abhängig gemacht, sondern nur vom Gerichtshof der Europäischen Union überprüft werden kann.
Drittens verpflichtet sich die deutsche Regierung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ihre in den Verträgen verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires-Feststellung aktiv zu vermeiden.
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So sehr die Einhaltung des Europarechts ja zu begrüßen ist...ich lese wohl nicht richtig?
Drittens verpflichtet sich die deutsche Regierung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ihre in den Verträgen verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires-Feststellung aktiv zu vermeiden.
Die Bundesregierung will also auf die BVerfG-Urteile mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln einwirken. Welche Mittel -es dürfte doch in einem Rechtsstaat gar keine geben(?)- sind das denn und sind die auch beim Karlsruher Urteil vom 18.07.2018 genutzt worden? Da sind die zukünftigen Abendessen des zukünftigen Bundeskanzlers mit BVerfG-Repräsentanten vermutlich noch der kleinste Hebel?
Ist also unter der (angeblich existierenden) Gewaltenteilung zu verstehen, dass dann die BVerfG-Richter im ehrwürdigen Karlsruher Gebäude immerhin noch vorlesen dürfen, was die Bundesregierung ihnen diktiert hat?
Die Presse bejubelt die Einstellung des Verfahrens angesichts der aktuellen schweren Verfassungskonflikte mit Polen und Ungarn z.B. als klugen Rückzug:
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eu-kommission-stellt-verfahren-gegen-deutschland-ein-kluger-rueckzug-17663258.html
Es gibt aber auch andere Stimmen:
Ein beispielloser Affront gegen das Bundesverfassungsgericht
https://www.merkur.de/politik/ein-beispielloser-affront-gegen-das-bundesverfassungsgericht-91156848.html
Falls hier der Bezug zum Rundfunkbeitrag gesucht wird, mag dies als Beispiel für die Zukunft dienen, wie politisch brisante Themen -wie z.B. auch ein mit Europarecht kollidierender Rundfunkbeitrag eines politischen Schwergewichts in Europa- von der EU-Kommission abgehandelt werden könnten:
Pro forma Vertragsverletzungsverfahren einleiten - hanebüchene und im Zweifel nicht belastbare Zusagen der betroffenen Regierung akzeptieren - das Verfahren einstellen und das Thema beerdigen.
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So sehr die Einhaltung des Europarechts ja zu begrüßen ist...ich lese wohl nicht richtig?
Hierzu siehe das neue Thema:
EuGH C-357/19 - EWG-Vertrag ist Verfassungsurkunde der Rechtsgemeinschaft EWG/EU
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,35841.msg216605.html#msg216605
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So sehr die Einhaltung des Europarechts ja zu begrüßen ist...ich lese wohl nicht richtig?
Drittens verpflichtet sich die deutsche Regierung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ihre in den Verträgen verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires-Feststellung aktiv zu vermeiden.
Die Bundesregierung will also auf die BVerfG-Urteile mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln einwirken. Welche Mittel -es dürfte doch in einem Rechtsstaat gar keine geben(?)- sind das denn und sind die auch beim Karlsruher Urteil vom 18.07.2018 genutzt worden? Da sind die zukünftigen Abendessen des zukünftigen Bundeskanzlers mit BVerfG-Repräsentanten vermutlich noch der kleinste Hebel?
Ist also unter der (angeblich existierenden) Gewaltenteilung zu verstehen, dass dann die BVerfG-Richter im ehrwürdigen Karlsruher Gebäude immerhin noch vorlesen dürfen, was die Bundesregierung ihnen diktiert hat?
Anlässlich meines Beitrags -diese größenwahnsinnige Selbstüberschätzung sei an dieser Stelle erlaubt ;) - oder aufgrund eigener Überlegungen hat DIE LINKE am 31.01.2022 eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt (https://dserver.bundestag.de/btd/20/005/2000557.pdf) u.a. mit den folgenden Fragen:
1. Bestätigt die Bundesregierung die Darstellung der Europäischen Kommission, sie sei gegenüber der Kommission eine Verpflichtung zur Einwirkung auf das Bundesverfassungsgericht eingegangen, um weitere Ultra-vires-Feststellungen des Gerichts „aktiv“ zu vermeiden (bitte begründen)?
3. Falls die Bundesregierung nicht bestätigt, gegenüber der Europäischen Kommission eine Verpflichtung zur Einwirkung auf das Bundesverfassungsgericht eingegangen zu sein: Wird sie gegenüber der Kommission und gegenüber der Öffentlichkeit klarstellen, dass sie keine entsprechende Verpflichtung eingegangen ist (bitte begründen)?
4. Ist das Antwortschreiben der Bundesregierung unabhängig von der Frage der Korrektheit der Darstellung der Europäischen Kommission in der Begründung ihres Beschlusses zur Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens dahin gehend zu interpretieren, dass sie die Wahrnehmung der Kontrollbefugnisse gegenüber Rechtsakten der Europäischen Union vonseiten des Bundesverfassungsgerichts für illegitim hält (bitte begründen)?
Die Antwort der Bundesregierung (https://dserver.bundestag.de/btd/20/006/2000658.pdf) bleibt wie erwartet nebulös:
Die Fragen 1, 3 und 4 werden zusammen beantwortet.
Für die Bundesregierung besteht eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, alle ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen und politischen Mittel einzusetzen, um eine Einhaltung des durch die Zustimmungsgesetze festgelegten Integrationsprogramms zu gewährleisten (BVerfGE 134, 366 [394 ff.]) und so einen Anlass für eine ultra vires-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu verhindern.
Das Zitat aus der Pressemitteilung der Europäischen Kommission zur Verfahrenseinstellung mit der Verpflichtung der Bundesregierung, „alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires-Feststellung aktiv zu vermeiden“, auf das die Vorbemerkung mit einer von der zitierten Quelle abweichenden Formulierung Bezug nimmt, findet sich so in der Antwort der Bundesregierung an die Europäische Kommission nicht.
In ihrer Antwort an die Europäische Kommission hat sich die Bundesregierung ausdrücklich zur Rechtsstaatlichkeit bekannt, zu der erklärtermaßen auch die Unabhängigkeit der Gerichte gehört. Einer darüberhinausgehenden Erläuterung bedarf es aus Sicht der Bundesregierung nicht.
Wie genau die Bundesregierung ohne Einwirkung auf das BVerfG -und damit ohne Gefährdung der Unabhängigkeit der Gerichte- eine Ultra-vires Feststellung verhindern will, erklärt sie nicht...
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@hankhug
EuGH C-357/19 - EWG-Vertrag ist Verfassungsurkunde der Rechtsgemeinschaft EWG/EU
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,35841.msg216605.html#msg216605
Sehe alles bitte im Kontext des verlinkten Themas; es wurden auf die Union hoheitliche Befugnisse übertragen.
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@pinguin
Ich verstehe nicht genau, was Du sagen willst?
Es wird ja von mir nicht der Anwendungsvorrang des EU-Rechts bestritten. Aber es wäre doch die Aufgabe des BVerfG, diesen Anwendungsvorrang eigenständig anzuerkennen.
Und nicht -im Angesicht der Gewaltenteilung- Aufgabe der Bundesregierung, das BVerfG zu infiltrieren oder zu beeinflussen oder zu bestechen, dass es seine Entscheidungen im Sinne dieses Anwendungsvorranges ausrichtet?
Dann wäre doch eher die Konsequenz, die Befähigung der BVerfG-Richter in Frage zu stellen und das Verfahren zur Bestellung der BVerfG-Richter zu hinterfragen?
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Es wird ja von mir nicht der Anwendungsvorrang des EU-Rechts bestritten. Aber es wäre doch die Aufgabe des BVerfG, diesen Anwendungsvorrang eigenständig anzuerkennen.
Hat es doch auch; siehe
BVerfG 1 BvL 3/08 - Normenkontrolle eines Unionsrecht umsetzenden Gesetzes
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,35898.msg216878.html#msg216878
BVerfG -1 BvR 276/17 - Vorrang des Unionsrechts auch beim Unionsgrundrecht
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,32844.msg201288.html#msg201288
BVerfG 1 BvQ 82/20 - Zwingendes Unionsrecht -> Unionsgrundrechte maßgeblich
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,34143.msg207416.html#msg207416
BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015
- 2 BvL 1/12 -, Rn. 1-26,
http://www.bverfg.de/e/ls20151215_2bvl000112.html
Dann wäre doch eher die Konsequenz, die Befähigung der BVerfG-Richter in Frage zu stellen und das Verfahren zur Bestellung der BVerfG-Richter zu hinterfragen?
Nö; eher ist die Befähigung der einfachen Richter*innen zu hinterfragen, die es unterlassen, dem EuGH eine Vorlage zu unterbreiten, obwohl sie bei jedwedem Unionsrecht auch seitens des BVerfG dazu verpflichtet sind.
Und überall dort, wo bspw. die Verarbeitung personenbezogener Daten betroffen ist, ist's automatisch Unionsrecht, wegen DSGVO und so.
Seitens des Bundesarbeitsgerichtes hat es bspw. eine aktuelle Vorlage, (EuGH C-667/21), die aber nicht rundfunkspezifisch ist:
Verarbeitung von Gesundheitsdaten im Arbeitsverhältnis
https://www.bundesarbeitsgericht.de/entscheidung/8-azr-253-20-a/
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Das mag ja im Allgemeinen alles richtig sein.
Mir fehlt jedenfalls nach wie vor die Phantasie, wie es die Bundesregierung schaffen will,unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ihre in den Verträgen verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires-Feststellung aktiv zu vermeiden
, ohne dabei direkten oder indirekten Einfluss auf das BVerfG zu nehmen.
Wenn hier jemand Theorien hat, wie so etwas gehen könnte, gerne her damit!