Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. November 2021
Strafverfahren gegen WB u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des S?d Okr?gowy w Warszawie
Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Nationale Regelung, nach der der Justizminister befugt ist, Richter an Gerichte höherer Ordnung abzuordnen und die Abordnung zu beenden – Spruchkörper in Strafsachen, denen vom Justizminister abgeordnete Richter angehören – Richtlinie (EU) 2016/343 – Unschuldsvermutung
Verbundene Rechtssachen C-748/19 bis C-754/19
Ergebnisliste: https://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?num=C-748/19
Analog zu diesem Rechtsverfahren gegen Polen möchte ich dazu aufrufen, sich über die Bundesrepublik Deutschland bei der EU-Kommission zu beschweren, da man nach den vielen absurden Urteilen zum Rundfunkbeitrag durchaus berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der deutschen Justiz haben kann. Polen wurde von den EU-Richtern in Luxemburg verurteilt, weil es dort offensichtlich Probleme hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz gibt:
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.
Kurzlink zum Urteil: https://kurzelinks.de/n1mx
Urteil ist auffindbar über:
EUR-Lex: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX:62019CJ0748
Ergebnisliste: https://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?num=C-748/19
Bei diesem Verfahren des Gerichtshof der Europäischen Union gegen Polen ging es um die Frage der Unabhängigkeit von Richtern im polnischen Rechtssystem. Da viele Menschen, die sich mit den absurden Urteilsbegründungen der deutschen Gerichte zum Rundfunkbeitrag beschäftigen mussten, durchaus berechtigte Zweifel an der politischen Unabhängigkeit des deutschen Rechtssystems gelten machen können, möchte ich mit diesem Thema dazu anregen, bei der EU-Kommission Beschwerden gegen Deutschland in diese Richtung einzureichen. Der Unterschied zur beanstandeten polnischen Rechtsvorschrift scheint im Vergleich zu Deutschland lediglich darin zu bestehen, dass unerwünschte Richter im deutschen Rechtssystem scheinbar damit rechnen müssen, auf informellen Wege abberufen oder bei Beförderungen übergangen zu werden. Bei einer Beschwerde bei der EU-Kommission sollte man sich daher vor allem auf die folgenden beiden Rechtsvorschriften berufen:
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV
Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.
https://dejure.org/gesetze/EU/19.html
Art. 2 EUV
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.
https://dejure.org/gesetze/EU/2.html
Für weitere Details zu Beschwerden bei der EU-Kommission verweise ich mal auf das
Beschwerdeformular: Mutmaßliche Verletzung des Unionsrechts durch einen Mitgliedstaat
https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/complaint-form_de.docx
Beschwerdeformular zur Meldung eines Verstoßes gegen das EU-Recht
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,33451.0.html
Zugelassen und beantwortet wurde im Verfahren nur die erste von vier Vorlagenfragen, die da lautet (Urteil: Rn. 16-17):
Als Erstes fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Besetzung der Spruchkörper, die über diese Strafsachen zu entscheiden haben, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vereinbar ist, da den Spruchkörpern ein Richter angehört, der mit einer Entscheidung des Justizministers gemäß Art. 77 § 1 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit abgeordnet wurde, in einigen der Strafsachen möglicherweise sogar von einem Rayongericht, d. h. von einem Gericht niederer Ordnung.
Die Regelung über die Abordnung von Richtern versetze den Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt und damit Vorgesetzter u. a. der Staatsanwälte der ordentlichen Gerichtsbarkeit sei, in die Lage, erheblichen Einfluss auf die Besetzung eines Strafgerichts auszuüben. Die Abordnung eines Richters an ein Gericht höherer Ordnung durch den Justizminister erfolge nach Kriterien, die offiziell nicht bekannt seien. Die Entscheidung über die Abordnung unterliege auch keiner gerichtlichen Kontrolle. Der Justizminister könne die Abordnung jederzeit beenden. Für die entsprechende Entscheidung seien keine im Voraus bestimmten Kriterien maßgeblich, und sie müsse nicht begründet werden. Es sei nicht sicher, ob die Entscheidung über die Beendigung der Abordnung einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden könne. Auf abgeordnete Richter in Spruchkörpern wie denen, die über die Ausgangsverfahren zu entscheiden hätten, könne der Justizminister daher in zweifacher Weise Einfluss ausüben. Zum einen könne er den betreffenden Richter, indem er ihn an ein Gericht höherer Ordnung abordne, für sein Verhalten auf früheren Dienstposten „belohnen“ und hinsichtlich der Art und Weise, wie er in Zukunft entscheide, sogar bestimmte Erwartungen äußern, so dass die Abordnung eine Ersatzbeförderung darstelle. Zum anderen könne er einen abgeordneten Richter, indem er seine Abordnung beende, dafür „bestrafen“, dass er eine Entscheidung erlassen habe, die er nicht gutheiße. Derzeit bestehe ein erhöhtes Risiko, dass eine solche Bestrafung erfolge, wenn der betreffende Richter entschieden habe, beim Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen einzureichen oder polnisches Recht, das nicht mit dem Unionsrecht in Einklang stehe, unangewendet zu lassen. Ein solches System schaffe daher für die abgeordneten Richter einen Anreiz, in Einklang mit dem Willen des Justizministers zu entscheiden, auch wenn dieser Wille nicht ausdrücklich formuliert werde. Dadurch werde letztlich das Recht der beschuldigten Person auf einen fairen Prozess verletzt, bei dem es sich um eine Ausprägung des Grundsatzes eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes handele.
Kurzlink zum Urteil: https://kurzelinks.de/n1mx
Aufhänger für diese Annahme waren vor allem Überlegungen, wonach die Unschuldsvermutung in Strafverfahren in Gefahr sei. Diese wird nicht nur durch die EU-Charta und die EMRK gewährleistet, sondern auch durch Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 bestimmt (Urteil: Rn. 4):
Art. 6 („Beweislast“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:
- „(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.
- (2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Personen zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte.“
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