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Allgemeines => Dies und Das! => Thema gestartet von: Spartakus am 08. April 2021, 21:19
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Zum Thema Eingriff in die Grundrechte, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Erzwingungshaft hier
BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 03. November 2017
- 2 BvR 2135/09 -, Rn. 1-26,
http://www.bverfg.de/e/rk20171103_2bvr213509.html
Rn 7
[...] Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art.2 Abs.2 Satz2 in Verbindung mit Art.104 Abs.1 Satz1 und Art.20 Abs.3 GG.
Rn. 8
1. In das Grundrecht auf Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingegriffen werden (Art. 2 Abs. 2 Satz 3, Art. 104 Abs. 1 und 2 GG). Ein solcher Eingriff muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, der sich bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst ergibt und dem als Element des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang zukommt (BVerfGE 19, 342 <348 f.>; 29, 312 <316>; 61, 126 <134>). Der Eingriff muss geeignet und erforderlich sein, seinen Zweck zu erreichen; er darf den Betroffenen nicht übermäßig belasten, muss diesem also zumutbar sein (BVerfGE 48, 396 <402>; 61, 126 <134>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch bei der Auslegung und Anwendung der Normen des einfachen Rechts stets zu beachten (BVerfGE 43, 101 <106>; vgl. auch 61, 126 <134 f.>).
[...]
Rn. 14
Ob unter diesem Gesichtspunkt Bagatellforderungen als Grundlage für den Erlass eines Haftbefehls zur Erzwingung der Abgabe der eidesstattlichen Versicherung ausscheiden können, obwohl der Schuldner zur Tilgung von Kleinforderungen durchaus in der Lage sein (vgl. BVerfGE 48, 396 <402>) und der Gläubiger auch an der Vollstreckung geringfügiger Forderungen ein erhebliches Interesse haben kann, bedarf für den vorliegenden Fall jedoch keiner Entscheidung. Bei einer Geldforderung von 1.000 € handelt es sich jedenfalls nicht um eine Bagatellforderung, bei der dem Gläubiger, dem der Eigentumsschutz des Art. 14 GG zugutekommt, mit Rücksicht auf das Freiheitsinteresse des Schuldners von vornherein ein Verzicht auf die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung zuzumuten wäre.
[...]
Rn. 22
[...] Als Zwangsmittel soll die Erzwingungshaft lediglich auf den Willen der verpflichteten Person einwirken, eine bestimmte Handlung vorzunehmen, die nicht erbracht worden ist, aber künftig noch erbracht werden kann. Daher kommt ihr ausschließlich Beugecharakter zu. Für die Verhältnismäßigkeit der Haft zur Erzwingung der Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung kommt es auf die Rechtsnatur der zugrundeliegenden Geldforderung, wegen derer die Vollstreckungbetrieben wird, nicht an. Die Erzwingungshaft ist weder Sanktion für die Nichtzahlung des Ordnungsgeldes noch Sanktion für den Verstoß gegen das Unterlassungsgebot, zudessen Ahndung das Ordnungsgeld verhängt worden ist. Sie dient vielmehr wie bei jeder Geldforderung allein der Feststellung der Vermögensverhältnisse des Schuldners und knüpft an einen anderen, von der Ordnungsmaßnahme zu unterscheidenden Vorwurf -nämlich die Verletzung der gesetzlichen Pflicht zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung- an.
Deshalb ist ihre Verhältnismäßigkeit losgelöst von derjengen der ersatzweise verhängten Ordnungshaft zu beurteilen.
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Die Richter des Bundesverfassungsgericht haben erkennbar nicht genügend Einblick in die Realität.
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Wenn ein notorischer Schuldenmacher in der Luxuswohnung eines "Freundes" wohnt mit dem Luxusauto, das auf den Bruder eingetragen ist, und ohne Bankkonto ist, weil er das eines anderen Freundes mitsamt Kreditkarte benutzen darf,
da sind die bis zu 6 Monate Beugehaft verhältnismäßig.
Wenn ein "Nichtzuschauer aus Gewissensgründen" mit Geringeinkommen die Rundfunkabgabe verweigert, da ist jede Beugehaft unverhältnismäßig.
Wenn jemand wegen Arbeitslosigkeit Kredite nicht bedienen kann oder nach einer Ehescheidung die gemeinsamen Schulden abtragen muss und es tut, aber nicht schnell genug tun kann...
Juristen leiden nun mal unter dem Irrglauben, irgendwelche Einheitsregeln
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seien ausgewogen, weil alles gleich behandelt wird. Damit Regeln "gleich"wirken, müssen sie in der Regel "ungleich" wirken, will heißen, differenzieren.
Da gilt das alte Problem des Fingernagel-Beschneide-Automaten, dass die Menschen nun mal unterschiedlich lange Finger haben (jedenfalls vor der ersten Anwendung).
Im Hinblick auf Georg Thiels Vorgang erhielten (fast alle) Bundestagsabgeordneten den Kurzantrag,
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dass das Beugehaft-Gesetz mit Differenzierung je nach Vorgangsart auszustatten sei.
Eigentlich könnte und müsste man das als Petition ausführlicher darstellen. Das könnte als Mustertext gemacht werden. Aber da die meisten ja doch vor dem Handeln zurückzucken, hat die Arbeit für einen solchen Mustertext vermutlich keinen Sinn. Ein einziger Einreicher, das genügt nicht, es müssen mindestens 10 sein und zwar auf Papier, damit die Sache auffällt.
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Die Richter des Bundesverfassungsgericht haben erkennbar nicht genügend Einblick in die Realität.
Was erwartest Du von Personen, die selbst vergleichsweise gut finanziell abgesichert sind?
Edit "Bürger" @alle:
Bitte allenfalls konkrete inhaltliche Auseinandersetzung - und nicht nur Meinungs- oder Unmutsbekundungen. Danke.
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Tag 44 (7. Woche):
Der Beschluss ist sicherlich interessant für den Haftfall Thiel, wenngleich es hier um eine Haftprüfung geht und nicht um eine Haftentschädigung. Die Haftprüfung war zumindest soweit erfolgreich, dass der Häftling nach 28 Tagen (27. August 2009 bis 23. September 2009) auf Anordnung des Bundesverfassungsgerichts in Freiheit gesetzt wurde. Da der Nicht-Annahmebeschluss erst am 3. November 2017 erging, können wir annehmen, dass sich das Verfahren anderweitig wohl erledigt hat und der Häftling nicht wieder in Haft musste.
Zur Diskussion über die Frage der Haftentschädigung verweise ich auf ein anderes Thema:
Thema: Auf Antrag des WDR und Stadt Borken droht am 25.02.21 die Inhaftierung
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,34912.msg212701.html#msg212701
bis
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,34912.msg212709.html#msg212709
Mit Bezug auf die Frage der Verhältnismäßigkeit würde ich auch nicht auf die Höhe der geschuldeten Summe abzielen, sondern auf die Unverhältnismäßigkeit der Erzwingung einer eidesstattlichen Versicherung durch Haft. Im Rahmen des Urteil zum Rundfunkbeitrages gab es bereits eine Bewertung zur Unverhältnismäßigkeit von eidesstattliche Versicherungen, die ich an dieser Stelle noch einmal zitieren möchte:
BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2018
- 1 BvR 1675/16 -, Rn. 1-157,
http://www.bverfg.de/e/rs20180718_1bvr167516.html
Zitat von: BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2018, 1 BvR 1675/16, Rn. 92
Dem ließe sich auch nicht dadurch abhelfen, dass die Beweislast für das Fehlen eines Empfangsgeräts den Beitragspflichtigen auferlegt würde. Der hierfür erforderliche Nachweis einer negativen Tatsache ließe sich praktikabel letztlich nur durch eine Versicherung an Eides statt erbringen. Neben der Frage der Verhältnismäßigkeit eines solchen Nachweises, bei dem Falschangaben mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht sind (vgl. Schneider, NVwZ 2013, S. 19 <22>; Wagner, Abkehr von der geräteabhängigen Rundfunkgebühr, 2011, S. 166 ff.), bildet die Versicherung an Eides statt vor allem nur eine Momentaufnahme ab (ebenso BVerwGE 154, 275 <290 Rn. 37>). Sie müsste regelmäßig erneuert werden, was kaum praktisch überprüft werden könnte. Entsprechendes gilt für den Nachweis, dass vorhandene Geräte nicht zum Empfang bereitgehalten werden.
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Leider ist dieser Ansatz, nämlich die Verhältnismäßigkeit der Erzwingungshaft an sich zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde zu machen, in Georgs Fall weder sinnvoll noch erfolgversprechend.
Eine Verfassungsbeschwerde, mit der die Entlassung aus der Erzwingungshaft erreicht werden soll, muß sich mit der Zulässigkeit des Erlasses des Haftbefels und der zugrundeliegenden Zulässigkeit der Vollstreckung auseinandersetzen. Denn wenn das BVerfG die (nach meiner unmaßgeblichen Meinung offensichtliche) Unzulässigkeit der Vollstreckung wegen deren fehlender Voraussetzungen bejaht, dann ist auch der darauf begründende Haftbefehl und folglich die Haft nicht nur unzulässig, sondern stellt eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung dar, die die Vollstreckungsbehörde zu einem Schmerzensgeld und Schadensersatz in nennenswerter Höhe verpflichten würde.
Wenn, wie in dem angeführten vom BVerfG entschiedenen Fall, die Forderung und die darauf begründende Vollstreckung rechtmäßig ist, dann wird es schwer, die Erzwingungshaft zur Abgabe der VA als rechtswidrig brandmarken zu lassen.
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Eine Verfassungsbeschwerde, mit der die Entlassung aus der Erzwingungshaft erreicht werden soll, muß sich mit der Zulässigkeit des Erlasses des Haftbefels und der zugrundeliegenden Zulässigkeit der Vollstreckung auseinandersetzen. Denn wenn das BVerfG die (nach meiner unmaßgeblichen Meinung offensichtliche) Unzulässigkeit der Vollstreckung wegen deren fehlender Voraussetzungen bejaht, dann ist auch der darauf begründende Haftbefehl und folglich die Haft nicht nur unzulässig, sondern stellt eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung dar, die die Vollstreckungsbehörde zu einem Schmerzensgeld und Schadensersatz in nennenswerter Höhe verpflichten würde.
Maßgeblich ist die Relation zwischen Grundrecht und Fachrecht, denn ist das Fachrecht nicht eingehalten, ist auch das Grundrecht verletzt, jedenfalls im vorliegenden und gleichartigen Fällen. Für das Fachrecht ist das BVerfG wiederum nicht zuständig, da sind BGH und BFH, in Teilen auch BVerwG, als Bundesfachgerichte relevant, und deren Aussagen sind wiederum eindeutig und abschließend entschieden; siehe BGH KZR 31/14 zur Unternehmenseigenschaft der ÖRR und, bspw., BFH V R 32/97 zur Nichtbefugnis hoheitlicher Aktivität bei öffentlichen Unternehmen.
Es wird jede Maßnahme fehlgehen, dem ÖRR die alleinige Schuld aufzubürden; denn für die Einhaltung der Vollstreckungsvoraussetzungen ist die "ersuchte Behörde" allzeit verantwortlich und in voller Haftung.
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@querkopf
Bei einer Verfassungsbeschwerde sind wir noch lange nicht angekommen, sondern immer noch bei der Frage, ob der Weg über ein Haftprüfungsverfahren sinnvoll ist, da dieser vielleicht zu einer früheren Entlassung führt. Die spätere Haftentschädigungsklage gegen die Stadt Borken kann dann auf vielen verschiedenen anderen Gründen beruhen, wobei mir dort der Aspekt wichtig erscheint, dass es Georg Thiel nicht um die Verweigerung der Vermögensauskunft geht, sondern um den Protest gegen das Unrecht aus dem Rundfunkbeitrag. Einen anderen realistischen Weg hat er schließlich nicht gehabt, als den Weg zu gehen, den er geht.
In diesem Zusammenhang spielt es dann schon eine Rolle, dass er sich vom Rundfunkbeitrag nicht befreien lassen konnte, indem er per eidesstattliche Versicherung versichern hätten können, dass er keinen Gebrauch von der Rundfunkempfangsmöglichkeit macht. Die Haftandrohung zur Abgabe einer Vermögensauskunft wird dadurch zu einer Form der Umerziehung, in der der abgelehnte Konsum von Rundfunk und Fernsehen per Zwangsmittel verordnet wird. Das erinnert schon sehr stark an die Umerziehungslager in China, die wir zurecht als Menschenrechtsverletzung betrachten.
Um solche Menschenrechtsverletzungen gingen es dem Kläger mit der Ordnungswidrigkeit jedoch nicht, sondern lediglich um das Kalkül die 1000 Euro Geldstrafe in eine zweitägige Haft umzuwandeln, weil diese ihm offensichtlich lieber war. Fachrechtlich ist im Fall Thiel dagegen auch noch zu prüfen, ob „Direktanmeldung“ und „vollständig automatisierte Festsetzungsbescheide“ überhaupt rechtskräftig waren, da es zu beiden Vorgängen keine Gesetze (zumindest zum Zeitpunkt ihrer Erstellung) gab.
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@art18GG: auch wenn ich der Vorstellung etwas abgewinnen kann, dass Rundfunkmacher sich wohl als "Erzieher" des Volkes sehen, dürfte das m. E. zu Unrecht hochgeschätzte Bundesverfassungsgericht noch immer zu der Ansicht kommen, dass mit der Verpflichtung zur Finanzierung des ÖR-Rundfunks keine Pflicht verbunden ist oder werden kann sich dem Programm der Sender auszusetzen. Und auch wenn hier aktuell praktisch sämtliche Grundrechte aufgehoben wurden, so sind wir noch relativ weit davon entfernt, dass wir in Umerziehungslagern gezwungen werden den ÖR-Rundfunk zu konsumieren um im Wege der Konfrontation mit Unerwünschtem zu einer positiven Haltung gegen dem System der Finanzierung des ÖRR zu gelangen.
Sicher kann man versuchen Rechtsmittel gegen die Inhaftierung zu nutzen. Ich vermute aber, dass das System der Zwangsfinanzierung sich nicht so leicht geschlagen gibt und Richter in der Erzwingungshaft zur Durchsetzung fast freiwilliger Vermögensauskunft kein Unrecht sehen werden.
M. Boettcher
Edit "Bürger" @alle:
Folgekommentar entfernt. Die Diskussion läuft Gefahr, ins Beliebige abzudriften.
Thread-Betreff/ Zielrichtung dieses Threads müssen präzisiert und der Thread dazu vorerst geschlossen werden.
Bitte etwas Geduld. Danke für allerseitiges Verständnis und die Berücksichtigung.