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BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19.04.2021, 1 BvR 679/21 - Erzwingungshaft
art18GG:
Tag 91 (noch 90 Tage):
Bei diesem Nicht-Annahmebeschluss haben wir zunächst mal wieder das Thema der Subsidiarität, das in bekannter Weise zum Problem des Anwaltszwangs führt, das wir bereits aus der verwaltungsrechtlichen Auseinandersetzung mit dem Rundfunkbeitrag kennen. Hierzu verweise ich mal auf das folgende Thema:
Antrag auf Zulassung der Berufung vor dem OVG in Münster
https://gez-boykott.de/Forum/index.php?topic=25367.0
Erkenntnisreich finde ich es jedoch, dass zumindest in NRW eine Selbstvertretungsmöglichkeit vor den Landgerichten besteht und der Anwaltszwang erst vor dem Oberlandesgerichten beginnt. Zur Ausschöpfung des Rechtsweg (Subsidiaritätsprinzip) hätte demnach zunächst ein Rechtsanwalt vor dem Oberlandesgericht Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichtes vom 12. März 2021 einlegen müssen, bevor man sich mit einer Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht wenden kann, wenngleich dies aus dem Beschluss des 1. Senates (Wieso der eigentlich?) nicht eindeutig hervorgeht.
Die Argumentation des Vertreters von Georg Thiel, dass die Erzwingungshaft allein deshalb unverhältnismäßig sei, weil sie „nicht das mildeste Mittel“ zur Kenntniserlangung der Vermögensverhältnisse sei, halte ich zudem nicht nur für schwach, sondern auch für falsch, weil diese Argumentation sich lediglich gegen die Unverhältnismäßigkeit der Erzwingungshaft in der Zivilprozessordnung richtet, aber nicht gegen das Unrecht aus dem RBStV selbst. Denn der Vertreter nimmt damit indirekt an, dass Menschen, die den Konsum von Rundfunk und Fernsehen ablehnen, eine Strafe verdient hätten, was ich nicht so sehe.
Niemand darf dafür eingesperrt werden, dass er den Konsum von Rundfunk und Fernsehen ablehnt. Denn der §2 RBStV ist in dieser Hinsicht ein diskriminierendes Gesetz, weil er Nicht-Konsumenten der Rundfunkempfangsmöglichkeit zur Förderung des Konsums von Rundfunk und Fernsehen zwingen will. Das Unrecht der politischen Verfolgung von Minderheiten beginnt letztendlich auch nicht erst dann, wenn Menschen auf Grund ihrer weltanschaulichen Ansichten in ein Konzentrationslager verfrachtet werden, sondern bereits dann, wenn diese Menschen als Kriminelle stigmatisiert werden und wirtschaftlich ruiniert werden sollen. In diesem Zusammenhang verweise ich nur auf die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ aus dem Jahre 1938, die in ihrer Anwendung sehr viele Parallelen zu der hier gegenständlichen Vermögensauskunft im Rahmen der Durchsetzung der Zahlung des diskriminierenden Rundfunkbeitrages aufweist.
WIKI: Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Verordnung_%C3%BCber_die_Anmeldung_des_Verm%C3%B6gens_von_Juden&oldid=206119133
https://de.wikisource.org/wiki/Verordnung_%C3%BCber_die_Anmeldung_des_Verm%C3%B6gens_von_Juden
Sehr stark und sehr gut fand ich an der Verfassungsbeschwerde des Vertreters dagegen die Erörterungen zur Darlegung der fehlenden Behördeneigenschaft des WDR und die damit verbundene Feststellung, dass die Haft schon aus diesem Grunde unzulässig sei. Das Bundesverfassungsgericht hätte an dieser Stelle schon (an)erkennen müssen, dass sich hier jemand sehr intensiv mit der Materie beschäftigt hat. Stattdessen werden die Richterinnen und Richter an dieser Stelle sehr undeutlich und kryptisch, wenn sie hierzu nur schreiben (s. o.: Rn. 9-10):
--- Zitat ---Der Beschwerdeführer missachtet mit seiner Verfassungsbeschwerde insbesondere den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verlangt über die Rechtswegerschöpfung hinaus, dass ein Beschwerdeführer zunächst alle ihm zumutbaren Möglichkeiten ergreift, um etwaige Grundrechtsverstöße im sachnächsten Verfahren abzustellen (vgl. nur BVerfGE 134, 242 <285 Rn. 150>).
Zu den Rechtsschutzmöglichkeiten während der Erzwingungshaft gehört, dass das Vollstreckungsgericht auf Antrag des Schuldners in Härtefällen Vollstreckungsschutz gemäß § 765a ZPO gewähren kann (vgl. BVerfGE 48, 396 <401>; 61, 126 <137 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. November 2017 - 2 BvR 2135/09 -, Rn. 15). Die Vorschrift des § 765a ZPO bietet die Möglichkeit, Grundrechte im Wege der Abwägung in die Entscheidung über Zwangsvollstreckungsmaßnahmen einzubeziehen (vgl. Heßler, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 765a Rn. 2 f.). Das gilt erst recht, wenn, wie hier, öffentlich-rechtliche Forderungen im Wege der Verwaltungsvollstreckung vollstreckt werden und das maßgebliche Landesverwaltungsvollstreckungsrecht auf die Zivilprozessordnung verweist.
--- Ende Zitat ---
Abgesehen davon dass nicht klar ist, welches Gericht mit dem „sachnächste Verfahren“ betraut werden soll, liegt der entscheidende Hinweis wohl im Verweis auf den § 765a ZPO, der da lautet:
https://www.gesetze-im-internet.de/zpo/__765a.html
--- Zitat ---(1) Satz 1: Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Satz 2: Es ist befugt, die in § 732 Abs. 2 bezeichneten Anordnungen zu erlassen. Satz 3: Betrifft die Maßnahme ein Tier, so hat das Vollstreckungsgericht bei der von ihm vorzunehmenden Abwägung die Verantwortung des Menschen für das Tier zu berücksichtigen.
(2) Eine Maßnahme zur Erwirkung der Herausgabe von Sachen kann der Gerichtsvollzieher bis zur Entscheidung des Vollstreckungsgerichts, jedoch nicht länger als eine Woche, aufschieben, wenn ihm die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 glaubhaft gemacht werden und dem Schuldner die rechtzeitige Anrufung des Vollstreckungsgerichts nicht möglich war.
(3) In Räumungssachen ist der Antrag nach Absatz 1 spätestens zwei Wochen vor dem festgesetzten Räumungstermin zu stellen, es sei denn, dass die Gründe, auf denen der Antrag beruht, erst nach diesem Zeitpunkt entstanden sind oder der Schuldner ohne sein Verschulden an einer rechtzeitigen Antragstellung gehindert war.
(4) Das Vollstreckungsgericht hebt seinen Beschluss auf Antrag auf oder ändert ihn, wenn dies mit Rücksicht auf eine Änderung der Sachlage geboten ist.
(5) Die Aufhebung von Vollstreckungsmaßregeln erfolgt in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 und des Absatzes 4 erst nach Rechtskraft des Beschlusses.
--- Ende Zitat ---
Diesen Hinweis dürfen wir daher als Hausaufgabe betrachten, die wir spätestens bis zur nächsten Inhaftierung dann gelöst haben sollten.
Siehe hierzu auch einen Artikel aus der Rechtslupe vom 17. Mai 2021 und weiteres:
Zwangsvollstreckung von Rundfunkbeiträgen – und die Erzwingungshaft
https://www.rechtslupe.de/verwaltungsrecht/zwangsvollstreckung-von-rundfunkbeitraegen-und-die-erzwingungshaft-3224882
Heßler, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 765a Rn. 2 f.
https://beck-online.beck.de/Dokument?vpath=bibdata%2Fkomm%2Fmuekozpo_3_band2%2Fzpo%2Fcont%2Fmuekozpo.zpo.p765a.htm
BVerfGE 48, 396 <401> = BVerfG, 20.06.1978 - 1 BvL 30/78 u. a.
https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BVerfG&Datum=20.06.1978&Aktenzeichen=1%20BvL%2030%2F78
BVerfGE 61, 126 <137 f.> = BVerfG, 19.10.1982 - 1 BvL 34/80, 1 BvL 55/80
https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BVerfG&Datum=19.10.1982&Aktenzeichen=1%20BvL%2034%2F80
BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 03. November 2017
- 2 BvR 2135/09 -, Rn. 1-26,
http://www.bverfg.de/e/rk20171103_2bvr213509.html
Bürger:
Kleine Anmerkung zu
--- Zitat von: art18GG am 26. Mai 2021, 18:07 ---Die Argumentation des Vertreters von Georg Thiel, dass die Erzwingungshaft allein deshalb unverhältnismäßig sei, weil sie „nicht das mildeste Mittel“ zur Kenntniserlangung der Vermögensverhältnisse sei, halte ich zudem nicht nur für schwach, sondern auch für falsch, weil diese Argumentation sich lediglich gegen die Unverhältnismäßigkeit der Erzwingungshaft in der Zivilprozessordnung richtet, aber nicht gegen das Unrecht aus dem RBStV selbst. Denn der Vertreter nimmt damit indirekt an, dass Menschen, die den Konsum von Rundfunk und Fernsehen ablehnen, eine Strafe verdient hätten, was ich nicht so sehe.
Niemand darf dafür eingesperrt werden, dass er den Konsum von Rundfunk und Fernsehen ablehnt. [...]
--- Ende Zitat ---
Es scheint hier ein Misssverständnis zu geben.
Die Argumentation, dass Haft nicht das mildeste Mittel zur Erlangung der gewünschten (Vermögens-)Erkenntnisse ist, war und und ist nicht "schwach" oder "falsch", sondern die naheliegendste Argumentation überhaupt - und zwar ohne jegliche tiefergreifende Betrachtungen und Erwägungen machen zu müssen bzgl. Nutzung/ Nichtnutzung bzw. Interesse/ Nicht-Interesse/ Ablehnung o.ä.
Eine Erzwingungshaft wäre - so wie in der Verfassungsbeschwerdes argumentiert wird - auch für einen Rundfunk-Nutzer unverhältnismäßig, denn außer der Haft gibt es eben die milderen und verhältnismäßigeren Mittel der Drittauskünfte und/oder der Wohnungsdurchsuchung.
Es geht bei der primären Frage der Verhältnismäßigkeit überhaupt nicht um die Frage einer "Bestrafung"/ "Nicht-Bestrafung" von "Nutzern" oder "Ablehnern" des Rundfunks, sondern schlicht um die Frage der Verhältnismäßigkeit des Mittels/ der Maßnahme innerhalb der zur Wahl stehenden alternativen/ milderen/ verhältnismäßigeren Mittel/ Maßnahmen.
Diesen Aspekt hier aber bitte nicht weiter vertiefen, denn das BVerfG hat sich dieser Frage ja überhaupt nicht angenommen - und die Frage der Verhältnismäßigkeit wäre wenn, dann in eigenständigem Thread durchzudiskutieren.
art18GG:
Tag 94 (noch 87 Tage):
@Bürger: Hier liegt kein Missverständnis vor, vielmehr habe ich eine andere Sichtweise. Oberflächlich betrachtet, ist das, was du schreibst natürlich richtig, wobei die zitierte Rechtsprechung zu diesem Thema schon ein ziemlicher Hammer ist. VerfGE 48, 396 <401>; 61, 126 <137 f.> bezieht sich jedoch auf Entscheidung von 1978 und 1982, also sehr alte Entscheidungen, weshalb man dort vielleicht auch etwas machen kann.
Die Vollstreckung des Rundfunkbeitrages hat für mich jedoch schon deshalb einen Sonderstatus, weil es nicht möglich ist, die Nicht-Nutzung der Rundfunkempfangsmöglichkeit per eidesstattliche Versicherung nachzuweisen. Hierzu verweise ich mal auf einen Kommentar in einem anderen Thema:
Auf Antrag des WDR und Stadt Borken droht am 25.02.21 die Inhaftierung
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,34912.msg212704.html#msg212704
Bei meiner Kritik geht es mir also nur darum, ausgehend von den gewonnen Erkenntnissen für zukünftige Verfahren einen anderen Ansatz in Erwägung zu ziehen. Um es mal einfach auszudrücken: Es ist unverhältnismäßig, jemanden wegen der Verweigerung einer eidesstattlichen Versicherung zu einer Vermögensauskunft, die die Pfändung des Rundfunkbeitrags ermöglichen soll, in Haft schicken, wenn in einer anderer Sicht zum Rundfunkbeitrag erklärt wird, dass eidesstattliche Versicherungen eigentlich keinen Wert haben.
Damit wird die Haft dann auch zur Strafe, da es nicht mehr darum geht, nur die Anweisung einer „Behörde“ durchzusetzen oder irgendeinen Gläubiger zu befriedigen, der unter Umständen auch andere Motive für die Veranlassung der Haft haben kann als die Eintreibung irgendwelcher Geldbeträge. Auch in dieser Hinsicht hat der Rundfunkbeitrag wegen seiner generellen Umstrittenheit einen Sonderstatus, wodurch er sich von anderen Geldforderungen, die in einem Vollstreckungsverfahren eingezogen werden sollen, erheblich unterscheidet.
pinguin:
--- Zitat von: art18GG am 29. Mai 2021, 14:37 ---Hier liegt kein Missverständnis vor, vielmehr habe ich eine andere Sichtweise.
--- Ende Zitat ---
Mit der Du leider nicht durchdringen wirst, da es dafür der zusammenhängenden Sichtweise bedarf, die, wo alles separat behandelt wird, nicht zu erlangen möglich ist. Das "Warum einer jeden Maßnahme" fragt keiner bis zum Schluß.
befreie_dich:
Quelle: https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/haftkosten-traegt-ausgerechnet-der-wdr-gez-verweigerer-seit-mehr-als-100-tagen-i-76697606.bild.html, https://archive.is/8l1GO, 'bild.de', Abruf 13.06.2021, ca. 09:25 Uhr.
--- Zitat ---Das sagt der WDR:
[...] Über die Zwangsmaßnahmen gegen Georg Thiel: „Der WDR ist gesetzlich verpflichtet, rückständige Rundfunkbeiträge festzusetzen. Es gab über Jahre zahlreiche schriftliche Angebote und dann Mahnungen an Herrn Thiel. Schuldner haben zudem jederzeit die Möglichkeit, eine Erzwingungshaft zu beenden, wenn sie eine Vermögensauskunft geben.“
[...] Zur Frage der Verhältnismäßigkeit: „Das Bundesverfassungsgericht führt in seinem Beschluss vom 19. April 2021 aus, dass die Vollstreckung im Interesse der Gemeinschaft der Beitragszahler erfolge und gegen die Inhaftierung (von Thiel) verfassungsrechtlich nichts einzuwenden sei.“
--- Ende Zitat ---
Hervorhebung i. Fett hinzugefügt.
Siehe auch: Pressemeldungen zur Beugehaft/ Erzwingungshaft von Georg Thiel (2021)
https://gez-boykott.de/Forum/index.php/topic,35110.msg214164.html#msg214164
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