@pjotre
Bei Deinen vier Millionen Niedrigstverdienern vergisst Du aber mindestens die gleiche Anzahl an Beziehern von kleinen und kleinsten Altersrenten, die genauso wie die Niedrigstverdiener dem Staat nicht auf der Tasche liegen wollen. Beschwerdeführer in 1 BvR 665/10 war ein Rentner, der auf Altersrente UND zusätzlich auf Wohngeld angewiesen ist; Beschwerdeführerin in 1 BvR 3269/08, 1 BvR 656/10 war bereits im SGB II-Bezug. Der Zuschlag nach § 24 SGB II a.F. war immer zeitlich befristet und sollte soziale Härten nach Wegfall des ALG I abfedern.
Keine Frage: Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) agiert sehr geschickt, wenn er VOR einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) “einknickt“ und sich einsichtig zeigt. Es zeigt aber auch die immense Angst ALLER Landesrundfunkanstalten vor einem bindenden Karlsruher Urteil zu dieser Rechtsfrage.
BEIDE Verfassungsbeschwerden (1 BvR 665/10; 1 BvR 3269/08, 1 BvR 656/10) betrafen die geringfügige ÜBERschreitung der sozialrechtlichen Bedarfgrenze. Es gibt bis dato KEIN einziges höher instanzliches Urteil, bei dem das Erwerbseinkommen bzw. die Altersrente die sozialrechtliche Bedarfsgrenze UNTERSCHRITTEN hat. Und wenn ein derartiger Sachverhalt vor Gericht verhandelt wurde, hat sich der NDR verhalten, wie bei den beiden Verfassungsbeschwerden. Auf keinen Fall ein für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk negatives Grundsatzurteil eines höheren Gerichts herbeiführen!!
Zu der Thematik “Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht trotz persönlichen Verzichts auf den Anspruch auf aufstockende Leistungen nach dem SGB II/ SGB XII“ existiert lediglich das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 07.03.2013.
Das Verwaltungsgericht Hamburg hat in dieser Frage geurteilt:
Die Nichtinanspruchnahme von staatlichen Sozialleistungen, aus welchen Gründen auch immer, darf einer Person keine Nachteile verschaffen.
(vgl. VG Hamburg, Urteil vom 07.03.2013 - 3 K 2817/12)
Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) als beklagte Landesrundfunkanstalt, legte zwar erwartungsgemäß Berufung beim OVG Hamburg gegen das Urteil ein, aufgrund eines Fristversäumnisses (!) sowie der Ankündigung des OVG Hamburg die Berufung als unzulässig zu verwerfen, zog der NDR die Berufung wieder zurück (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 05.01.2016 - 5 Bf 65/13), mit der Folge, dass das erstinstanzliche Urteil des VG Hamburg rechtskräftig und auf gleich gelagerte Fälle anwendbar ist.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat sich in ähnlicher Thematik wie folgt geäußert:
[…] Die Befreiung einkommensschwacher Personen von der Rundfunkbeitragspflicht ist “bescheidgebunden“ und setzt den Nachweis der Bedürftigkeit durch Vorlage einer Bestätigung oder eines Bescheids der hierfür zuständigen Behörde oder des Leistungsträgers voraus. Die nicht in dieser Weise nachgewiesene Bedürftigkeit ist auch nicht als besonderer Härtefall anzusehen. […]
(BayVGH, Beschluss vom 03.12.2013 - 7 ZB 13.1817).
Mit seinem Beschluss verlagert der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) den erforderlichen Bürokratieaufwand bei der Prüfung der Befreiungsvoraussetzungen von den Landesrundfunkanstalten bzw. vom Beitragsservice Köln zu den zuständigen kommunalen Leistungsträgern der Grundsicherung, da hier - so der BayVGH in seinem Beschluss - die erforderlichen Sachaufklärungsmittel, sprich die sozialrechtliche Fachkompetenz, vorhanden sind. Ein Blick auf die persönliche Einnahmen-/ Ausgabensituation genügt, um festzustellen, ob eine “Bedürftigkeit“ und damit ein “finanzieller Härtefall“ vorliegt oder nicht. Dafür braucht man keine sozialrechtliche Fachkompetenz, sondern lediglich ein gutes Zahlenverständnis.
Auch der NDR beruft sich mittlerweile auf diesen Beschluss, wenn es um die Befreiung als “finanzieller Härtefall“ geht. DAS völlig Absurde: Person M hat beim Jobcenter team.arbeit.hamburg einen Antrag auf Ausstellung einer entsprechenden Drittbescheinigung zwecks Befreiung nach § 4 VI RBStV gestellt, der bereits telefonisch abgelehnt wurde. Begründung von Jobcenter team.arbeit.hamburg: Erstens: Der Beschluss eines bayerischen Gerichts ist für Hamburg nicht maßgebend. Zweitens: Der Zeitraum liegt drei Jahre zurück. Und Drittens: Person M hätte ja Leistungen beantragen können, damit eine Befreiung erfolgt.
Genau DAS hat Person M 2013 nicht gemacht und aus persönlichen Gründen auf die Inanspruchnahme verzichtet!! Die Zahlung von Kindesunterhalt auf Grundlage eines Unterhaltsbeschlusses ist eine persönliche Verpflichtung, und nicht die Aufgabe der SteuerzahlerInnen, finanziell für diese aufzukommen. Der Kindesunterhalt in Höhe von 1.168 Euro wäre in voller Höhe vom Einkommen absetzbar gewesen (§ 11b I Nr. 7 SGB II).
Person M wird nun beim Sozialgericht Hamburg im Rahmen des Verfahrens der einstweiligen Anordnung (§ 86b SGG) beantragen, dass das Jobcenter team.arbeit.hamburg verpflichtet wird, die Drittbescheinigung auszustellen. Es ist davon auszugehen, dass dies kein Einzelfall bleiben wird, da die einzelnen Jobcenter-Standorte wohl von einem (rückwirkend gestellten) Leistungsantrag ausgehen, und nicht von der Feststellung eines sozialrechtlichen Gesamtbedarfs und der Ausstellung einer Drittbescheinigung. So bekommen nun auch die Sozialgerichte unnötige Arbeit durch den “Verursacher“ Rundfunkbeitrag aufgebrummt.
Grüße aus Hamburg
"Ein guter Jurist kann nur der werden, der mit einem schlechten Gewissen Jurist ist." (Gustav Radbruch, deutscher Rechtsphilosoph, 1878-1949)